Besiegt ist nur das Kalifat
Der militärische Sieg über den „Islamischen Staat“(IS) in Ost-Syrien markiert das Ende einer Ära – und den Beginn eines neuen und gefährlichen Kapitels. Die Notwendigkeit, die Extremisten zu besiegen, hat in den vergangenen Jahren mehrere Faktoren überlagert, die jetzt wieder hervortreten. So dürften sich die Spannungen im Osten Syriens verschärfen, weil es ab jetzt um die Zukunft der Kurden in der Gegend gehen wird. In der gesamten Region stellt sich die Frage, wie ein Comeback der Dschihadisten wirksam verhindert werden kann: Denn der IS profitierte vom Kollaps der staatlichen Ordnung und von der Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen in Ländern wie Syrien, Irak, Libyen und Jemen. Keines dieser grundlegenden Probleme ist gelöst. Die IS-Ideologie könnte leicht neuen Nährboden finden.
Die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen für ein neues Erstarken des IS sind vorhanden. USExperten nehmen an, dass der IS ein Vermögen von mehreren hundert Millionen Dollar in Sicherheit gebracht hat. Zudem seien zerschlagene Befehlsstrukturen wieder aufgebaut worden. Im Irak könnten diese Ressourcen von den Extremisten schon bald für ihre Zwecke eingesetzt werden. Viele sunnitische Iraker fühlen sich unter der schiitischen Zentralregierung in Bagdad wie Bürger zweiter Klasse – dies spielt den Dschihadisten in die Hände.
Auch außerhalb des syrisch-irakischen Krisengebietes läuft für den IS vieles nach Plan. Zu den politischen Problemen treten immense wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Die junge Bevölkerung der arabischen Welt braucht Millionen neuer Arbeitsplätze und eine Perspektive. Bisher zeichnet sich keine überzeugende Vision ab.
All dies schwächt moderate Kräfte und bestärkt radikale Gruppen in der Überzeugung, dass mit friedlichen Mitteln keine Verbesserungen durchsetzbar sind. IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi wird trotz der militärischen Niederlage seiner Miliz wohl auch weiter Kämpfer für den IS finden. Das Kalifat mag besiegt sein, der IS selbst ist es nicht.