Gerüchte um May-Ablösung
Als Nachfolger gehandelter Vize-Premier dementiert
LONDON/BRÜSSEL (dpa/sbo) - Im Brexit-Chaos gerät Premierministerin Theresa May immer stärker unter Druck. Sie könnte schon bald von ihrem Kabinett zum Rücktritt gezwungen werden, berichteten britische Medien am Sonntag. Nach einem Bericht der „Times“gibt es Überlegungen, dass der EU-freundliche VizePremier David Lidington als Interimsregierungschef einspringen könnte. Elf Minister hätten „bestätigt, dass sie wollen, dass die Premierministerin Platz für jemand anderes macht“. Lidington selbst sagte dazu: „Für Intrigen habe ich keine Zeit.“May steht vor einer Schicksalswoche: Ihr mit Brüssel ausgehandeltes Austrittsabkommen wird wohl erneut im Unterhaus durchfallen.
In London demonstrierten am Samstag Hunderttausende gegen den Brexit, eine Onlinepetition gegen den EU-Austritt unterzeichneten bis Sonntagnachmittag mehr als fünf Millionen Briten.
Im Unterhaus kommt es in dieser Woche zu einer neuerlichen Serie von Brexit-Abstimmungen, die Theresa Mays Schicksal besiegeln könnten. Am Wochenende überschlugen sich die Zeitungen mit Spekulationen zu einem bevorstehenden Putsch von elf Ministern des Kabinetts gegen die konservative Premierministerin. Diese empfing am Sonntagnachmittag führende Brexit-Enthusiasten, darunter die Ex-Minister Boris Johnson und Dominic Raab, zum Gespräch auf ihrem Landsitz Chequers. Der anwesende Vize-Premier David Lidington, von diversen Gazetten als möglicher Übergangs-Nachfolger benannt, teilte vorab mit: „Für Intrigen habe ich keine Zeit.“Über May sagte er: „Sie macht einen fantastischen Job.“
Die Gerüchte über einen Showdown bei der für den heutigen Montag geplanten Kabinettsitzung verdeutlichen, wie nervös führende Konservative auf die Ergebnisse des EU-Gipfels am Freitag reagiert haben. Dort waren dem Land zunächst 14 zusätzliche Tage Bedenkfrist über den geplanten Scheidungstermin an diesem Freitag hinaus eingeräumt worden. Sollte das Parlament wider Erwarten im dritten Anlauf dem zwischen May und Brüssel verhandelten Austrittspaket zustimmen, käme die Trennung am 22. Mai. Prominente Brexit-Befürworter setzten sich für den geregelten Austritt ein. „Es ist der einzige Deal, den wir haben“, argumentierte Gisela Stuart, LabourAushängeschild der Austrittskampagne, ebenso wie der frühere ToryParteichef Michael Howard.
Hunderttausende für EU-Verbleib
Am Samstag hatten Hunderttausende in London für eine zweite Volksabstimmung und für den EU-Verbleib demonstriert. Vor dem Parlament hörten sie die Ansprachen prominenter Politiker aller wichtigen Parteien, darunter waren der konservative frühere Vize-Premier Michael Heseltine, Labour-Vize Tom Watson sowie die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Im Internet macht seit Tagen eine Petition ans Parlament Furore, die sich die BrexitRücknahme wünscht. Die Forderung wurde bis Sonntagnachmittag von mehr als fünf Millionen Menschen unterstützt.
Sämtliche Optionen werden diese Woche im Unterhaus wieder aufeinanderprallen. Wohl am Mittwoch kommt es zu einer Serie nicht-bindender Abstimmungen. Die parteiübergreifenden Initiatoren, angeführt von den Ex-Ministern Oliver Letwin (Tory) und Hilary Benn (Labour), wollen feststellen, welche Lösung sich die Parlamentarier für die Brexit-Blockade vorstellen können. Zur Wahl stehen neben der Aufkündigung des Austritts und dem zweiten Referendum auch unterschiedliche Formen des Brexits: vom chaotischen Austritt ohne Vereinbarung („No Deal“) über das vorliegende Verhandlungspaket bis hin zu einem weichen Ausscheiden mit Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion.
Dass Mays Amtszeit zu Ende geht, ist seit Dezember klar. Eine Vertrauensabstimmung in der Fraktion überlebte die 62-Jährige nur durch ihr öffentliches Versprechen: Sie werde die Torys „nicht in die nächste Wahl“führen. Der nächste Urnengang steht 2022 an. In Wirklichkeit verschaffte sich die Regierungschefin aber Spielraum für höchstens ein Jahr. So lange dauert die Ruhezeit, die das Parteistatut einer im Amt bestätigten Vorsitzenden einräumt. May wollte Grossbritanniens EUAustritt über die Bühne bekommen, sich ein wenig im Glanz der erfolgreich bestandenen Großtat sonnen und beim Parteitag Ende September ihren Rücktritt einleiten.
Gerücht um Vize-Premier Lidington
Die jetzt beschlossene Verzögerung ruft all jene auf den Plan, die behaupten, sie würden in zukünftigen Verhandlungen mit der EU bessere Ergebnisse erzielen. Dazu zählen Raab und Johnson, Mays Gäste vom Sonntag, sowie Jeremy Hunt, Johnsons Nachfolger als Außenminister, und Umweltminister Michael Gove. Betrachtet werden die Kandidaten ausschließlich durch das Brexit-Prisma. Andere Kriterien wie Kompetenz oder Beliebtheit spielen eine untergeordnete Rolle. Schon deshalb spricht wenig für Vize-Premier Lidington: Er ist hochkompetent, gehörte zu den lautstarken Befürwortern des EU-Verbleibs und arbeitet nun hart an einem Kompromiss.