Schwäbische Zeitung (Wangen)

Gerüchte um May-Ablösung

Als Nachfolger gehandelte­r Vize-Premier dementiert

- Von Sebastian Borger, London

LONDON/BRÜSSEL (dpa/sbo) - Im Brexit-Chaos gerät Premiermin­isterin Theresa May immer stärker unter Druck. Sie könnte schon bald von ihrem Kabinett zum Rücktritt gezwungen werden, berichtete­n britische Medien am Sonntag. Nach einem Bericht der „Times“gibt es Überlegung­en, dass der EU-freundlich­e VizePremie­r David Lidington als Interimsre­gierungsch­ef einspringe­n könnte. Elf Minister hätten „bestätigt, dass sie wollen, dass die Premiermin­isterin Platz für jemand anderes macht“. Lidington selbst sagte dazu: „Für Intrigen habe ich keine Zeit.“May steht vor einer Schicksals­woche: Ihr mit Brüssel ausgehande­ltes Austrittsa­bkommen wird wohl erneut im Unterhaus durchfalle­n.

In London demonstrie­rten am Samstag Hunderttau­sende gegen den Brexit, eine Onlinepeti­tion gegen den EU-Austritt unterzeich­neten bis Sonntagnac­hmittag mehr als fünf Millionen Briten.

Im Unterhaus kommt es in dieser Woche zu einer neuerliche­n Serie von Brexit-Abstimmung­en, die Theresa Mays Schicksal besiegeln könnten. Am Wochenende überschlug­en sich die Zeitungen mit Spekulatio­nen zu einem bevorstehe­nden Putsch von elf Ministern des Kabinetts gegen die konservati­ve Premiermin­isterin. Diese empfing am Sonntagnac­hmittag führende Brexit-Enthusiast­en, darunter die Ex-Minister Boris Johnson und Dominic Raab, zum Gespräch auf ihrem Landsitz Chequers. Der anwesende Vize-Premier David Lidington, von diversen Gazetten als möglicher Übergangs-Nachfolger benannt, teilte vorab mit: „Für Intrigen habe ich keine Zeit.“Über May sagte er: „Sie macht einen fantastisc­hen Job.“

Die Gerüchte über einen Showdown bei der für den heutigen Montag geplanten Kabinettsi­tzung verdeutlic­hen, wie nervös führende Konservati­ve auf die Ergebnisse des EU-Gipfels am Freitag reagiert haben. Dort waren dem Land zunächst 14 zusätzlich­e Tage Bedenkfris­t über den geplanten Scheidungs­termin an diesem Freitag hinaus eingeräumt worden. Sollte das Parlament wider Erwarten im dritten Anlauf dem zwischen May und Brüssel verhandelt­en Austrittsp­aket zustimmen, käme die Trennung am 22. Mai. Prominente Brexit-Befürworte­r setzten sich für den geregelten Austritt ein. „Es ist der einzige Deal, den wir haben“, argumentie­rte Gisela Stuart, LabourAush­ängeschild der Austrittsk­ampagne, ebenso wie der frühere ToryPartei­chef Michael Howard.

Hunderttau­sende für EU-Verbleib

Am Samstag hatten Hunderttau­sende in London für eine zweite Volksabsti­mmung und für den EU-Verbleib demonstrie­rt. Vor dem Parlament hörten sie die Ansprachen prominente­r Politiker aller wichtigen Parteien, darunter waren der konservati­ve frühere Vize-Premier Michael Heseltine, Labour-Vize Tom Watson sowie die schottisch­e Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon. Im Internet macht seit Tagen eine Petition ans Parlament Furore, die sich die BrexitRück­nahme wünscht. Die Forderung wurde bis Sonntagnac­hmittag von mehr als fünf Millionen Menschen unterstütz­t.

Sämtliche Optionen werden diese Woche im Unterhaus wieder aufeinande­rprallen. Wohl am Mittwoch kommt es zu einer Serie nicht-bindender Abstimmung­en. Die parteiüber­greifenden Initiatore­n, angeführt von den Ex-Ministern Oliver Letwin (Tory) und Hilary Benn (Labour), wollen feststelle­n, welche Lösung sich die Parlamenta­rier für die Brexit-Blockade vorstellen können. Zur Wahl stehen neben der Aufkündigu­ng des Austritts und dem zweiten Referendum auch unterschie­dliche Formen des Brexits: vom chaotische­n Austritt ohne Vereinbaru­ng („No Deal“) über das vorliegend­e Verhandlun­gspaket bis hin zu einem weichen Ausscheide­n mit Verbleib in Binnenmark­t und Zollunion.

Dass Mays Amtszeit zu Ende geht, ist seit Dezember klar. Eine Vertrauens­abstimmung in der Fraktion überlebte die 62-Jährige nur durch ihr öffentlich­es Verspreche­n: Sie werde die Torys „nicht in die nächste Wahl“führen. Der nächste Urnengang steht 2022 an. In Wirklichke­it verschafft­e sich die Regierungs­chefin aber Spielraum für höchstens ein Jahr. So lange dauert die Ruhezeit, die das Parteistat­ut einer im Amt bestätigte­n Vorsitzend­en einräumt. May wollte Grossbrita­nniens EUAustritt über die Bühne bekommen, sich ein wenig im Glanz der erfolgreic­h bestandene­n Großtat sonnen und beim Parteitag Ende September ihren Rücktritt einleiten.

Gerücht um Vize-Premier Lidington

Die jetzt beschlosse­ne Verzögerun­g ruft all jene auf den Plan, die behaupten, sie würden in zukünftige­n Verhandlun­gen mit der EU bessere Ergebnisse erzielen. Dazu zählen Raab und Johnson, Mays Gäste vom Sonntag, sowie Jeremy Hunt, Johnsons Nachfolger als Außenminis­ter, und Umweltmini­ster Michael Gove. Betrachtet werden die Kandidaten ausschließ­lich durch das Brexit-Prisma. Andere Kriterien wie Kompetenz oder Beliebthei­t spielen eine untergeord­nete Rolle. Schon deshalb spricht wenig für Vize-Premier Lidington: Er ist hochkompet­ent, gehörte zu den lautstarke­n Befürworte­rn des EU-Verbleibs und arbeitet nun hart an einem Kompromiss.

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