Grenzenloser Kontrollverlust
Glücksspiel ist ein Milliardengeschäft – die Umsätze werden teilweise unkontrolliert im Schwarzmarkt gemacht. Das Risiko tragen Spielsüchtige wie Volker Brümmer
STUTTGART (lsw) - Nach 23 Jahren als Spielsüchtiger stand Volker Brümmer (Foto: dpa) an den Gleisen, die Abschiedsbriefe waren geschrieben. „Ich habe nicht nur Geld verspielt, sondern alle sozialen Kontakte – am Ende fast mein Leben.“Am Tiefpunkt seiner Spielerbiografie, mit 300 000 Euro Schulden, besann sich der Fliesenleger glücklicherweise aber doch noch eines anderen. Heute ist der 50-Jährige „trocken“, wie er es nennt. Und redet offen über seine Vergangenheit.
Brümmer war noch ein Kind, als er das erste Mal spielte. An einer Raststätte warf er das Taschengeld, das er von seiner Oma bekommen hatte, in einen Automaten. Die zwei Mark kamen nicht mehr heraus. „Das war das erste Mal, dass ich meine Eltern wegen des Spielens angelogen habe.“Jahre später wird er Bankmitarbeitern erfundene Geschichten erzählen – und auch das Sparbuch seiner Tochter leer räumen.
200 000 Glücksspieler
Wegen des Spielens zu lügen, ist der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge ein Kennzeichen für Glücksspielsüchtige – das Spiel mit immer höheren Einsätzen und kriminelle Geldbeschaffung ein weiteres. In Deutschland gibt es Schätzungen zufolge 200 000 pathologische, also krankhafte Glücksspieler, sagt Tilman Becker, Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim. Dazu kommen rund 300 000 problematische Spieler. Der Großteil zockt an Automaten. Bei knapp 77 Prozent der Spieler, die sich an ambulante Beratungsoder Behandlungsstellen begeben, ist das die Hauptglücksspielform. Das geht aus der Suchthilfestatistik 2017 des Instituts für Therapieforschung hervor.“
Einmal im Monat, damit fing es an“, erzählt Brümmer. „Zum Schluss habe ich in Spielhallen an 20 Automaten gleichzeitig gespielt. Der Kontrollverlust ist grenzenlos.“Während der letzten drei Jahre seiner Sucht spielte Brümmer von zu Hause aus, im Internet. „365 Tage im Jahr 24 Stunden geöffnet – das Paradies für jeden Spieler.“
Onlinecasinos und Onlinepoker gehören zum nichtregulierten Glücksspielmarkt – und der ist nach deutschem Recht illegal. Von den rund 14,2 Milliarden Euro Umsatz der Glücksspielanbieter im Jahr 2017 entfallen 22 Prozent auf den nichtregulierten Bereich. Zu diesem zählen auch Sportwetten im Internet.
Der Schwarzmarkt boomt
Die Zahlen stammen aus dem Jahresreport der Glücksspiel-Aufsichtsbehörden der Länder. Während der regulierte Markt im Vergleich zum Vorjahr nur um ein Prozent (157 Millionen Euro) wuchs, legte der Schwarzmarkt um 24 Prozent zu (626 Millionen Euro). Derzeit debattieren die Bundesländer über eine Reform des Glücksspiel-Staatsvertrags. Vorgesehen ist eine Öffnung des Sportwettenmarktes. Das Onlineglücksspiel soll nach jetzigem Stand aber weiter verboten bleiben.
Glücksspielforscher Becker fordert stärkere Kontrolle und Regulierung durch eine länderübergreifende Behörde. Vor allem der Spielerschutz müsse weiter vorangetrieben werden: „Experten sind sich einig, dass eine Sperrdatei eine ganz wichtige Präventionsmaßnahme bei Glücksspielsucht ist.“Bisher gibt es nur in Hessen ein Sperrsystem für alle Spielhallen. Die Sperre können die Spieler selbst, Angehörige oder auch die Betreiber beantragen. Im Landesglücksspielgesetz aus dem Jahr 2012 ist eine landesweite Sperrdatei ebenfalls vorgesehen – bislang können sich Spieler aber nur für einzelne Spielhallen sperren lassen.
Georg Stecker, Vorstandssprecher der Deutschen Automatenwirtschaft (DAW), spricht sich für ein bundesweites biometrisches Zugangssystem aus. „Wir wollen mit Süchtigen kein Geld verdienen.“Der Verband verweist auf geschultes Personal in den Spielhallen – nur im legalen Rahmen könnten Spieler geschützt spielen. Bundesweit sind nach Angaben des Verbands rund 278 000 bargeldbetätigte Spielgeräte aufgestellt. 82 000 davon stehen nicht in Spielhallen, sondern in gastronomischen Betrieben.
18 Monate Therapie
Wie viel Umsatz auf Spielsüchtige zurückgeht, dazu gibt es keine Erhebung, sagt Glücksspielforscher Becker. Brümmer verzockte manchmal Tausende Euro in einer Nacht. Er benötigte 18 Monate Therapie. Elf Jahre hat er bislang ohne Rückfall bewältigt. Das ist nicht selbstverständlich, wie er von vielen Erzählungen weiß. Der 50-Jährige leitet mittlerweile eine Selbsthilfegruppe für Spieler.