Softwarekonzern SAP setzt auf Autisten
SAP stellt Menschen mit Autismus ein – Das Betriebsklima hat sich dadurch verändert
Rund 90 Prozent der Menschen mit Autismus im erwerbsfähigen Alter in Deutschland sind arbeitslos. Das ist ein riesiges, ungenutztes wirtschaftliches Potenzial, denn autistische Menschen haben Eigenschaften, die sich Arbeitgeber eigentlich wünschen (Foto: Shutterstock). SAP, der Weltmarktführer für Unternehmenssoftware mit Sitz im baden-württembergischen Walldorf, hat das Potenzial erkannt. Wie das Unternehmen von seinen autistischen Mitarbeitern profitiert, lesen Sie auf
WALLDORF - Domenik Hein ist auf dem Weg ins Büro. Während andere einfach bei Rot über die Straße laufen, wenn kein Auto kommt, bleibt Hein grundsätzlich stehen. „Über Rot gehen, widerstrebt mir“, sagt er. Schließlich bedeutet Grün, dass man gehen darf, Rot, dass man stehen bleiben muss. „Das ist eine Regel, und an die halte ich mich.“Einfach. Logisch.
Hein ist einer von 140 SAP-Mitarbeitern mit der komplexen neurologischen Entwicklungsstörung Autismus. Seit etwa einem halben Jahr ist der 27-jährige ausgebildete Informatiker als Legal Compliance Analyst bei dem Softwareunternehmen tätig. Er überprüft, ob die Produkte des Unternehmens mit bestehenden Lizenzen, Richtlinien und Gesetzen konform sind. 2013 startete SAP das Programm „Autism at work“. Der Konzern, der weltweit rund 96 000 Mitarbeiter beschäftigt, stellt bewusst Menschen mit Autismus ein, vor allem im IT-Bereich, aber auch im Personal- und Finanzwesen.
Damit sind Domenik Hein und seine Kollegen eine Ausnahme, denn etwa 90 Prozent der rund 350 000 autistischen Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland haben keinen Job. Und das, obwohl viele eine Ausbildung gemacht oder studiert haben – ein großes, ungenutztes wirtschaftliches Potenzial, denn Menschen mit Autismus besitzen Eigenschaften, die sich Arbeitgeber eigentlich wünschen.
Kein Problem mit Routine
„Sie haben eine hohe Konzentrationsfähigkeit, ein analytisches Denkverständnis und kein Problem mit Routineaufgaben“, sagt Marco Fien, der das Projekt „Autism at work“in Deutschland leitet. Hundertmal die gleiche Programmzeile in den Computer tippen? Ein Autist kann darin aufgehen. Menschen mit Autismus sind auch oft sehr geschickt im Umgang mit Zahlen, Daten und Formeln. Für den Bereich IT ist das perfekt. Forscher diskutieren, ob Albert Einstein, Charles Darwin oder Andy Warhol autistisch waren. Begabt auf der einen Seite also, tun sich Autisten auf der anderen Seite schwer. Mit Menschen. Vielen fällt es schwer, sich in andere Personen hineinzuversetzen, deren Gefühle zu erkennen oder ihre Mimik zu deuten, beispielsweise daran abzulesen, ob jemand verärgert, genervt oder müde ist. Mit „Neurotypischen“, also Nichtautisten, sind Missverständnisse deswegen meist unausweichlich. Allerdings gibt es nicht die eine gültige Ausprägung von Autismus, Experten sprechen von einem Spektrum.
Exakter Ablaufplan für den Alltag
Hein hat das Asperger-Syndrom, eine Autismusvariante, die als milde Form der Entwicklungsstörung gilt. Nur manchmal fällt auf, dass er ein klein wenig anders tickt als andere. Zum Beispiel, wenn er Blickkontakt vermeidet oder Dinge sagt, wie „Ich habe mir einen Ablaufplan für meinen Alltag geschrieben.“Wie einen Stundenplan für die Schule. „Dort steht drin, wann ich schlafen gehen sollte, wann ich mich um Haushaltspflichten kümmern muss und wann ich Freizeit habe.“Diesen Plan hält er immer ein. Auch im Urlaub.
Erst seit seinem zweiten Lehrjahr weiß Hein, dass er autistisch ist. Bevor es ein Arzt tat, diagnostizierte er sich sozusagen selbst. Hein sah die USSitcom Community, bei der ein Darsteller einen Asperger-Autisten spielt. Hein konnte sich mit jeder einzelnen Eigenart der Figur identifizieren. So kam er auf den Gedanken, dass auch er das AspergerSyndrom haben könnte. Er googelte den Begriff, und heute sagt er trocken: „Das waren die aufklärungsreichsten 20 Minuten meines Lebens.“Jede einzelne Alltagssituation, in der es Missverständnisse mit anderen Menschen gab, konnte er jetzt einordnen.
Das half ihm allerdings nicht in jedem Fall. In einem seiner früheren Jobs gab es Probleme mit einem Kollegen. „Das war die reinste Katastrophe“, sagt Hein. Der Kollege sei mit seiner direkten Art nicht zurechtgekommen, obwohl Hein mit seinem „Anderssein“offen umgeht und sein Kollege gewusst habe, dass er Autist ist. Beide konnten nicht miteinander, und der Chef hatte bald kein Verständnis mehr. Das Unternehmen hat Hein nach der Probezeit nicht übernommen. Es folgte eine lange Zeit mit vielen erfolglosen Bewerbungen.
„Die meisten Unternehmen schrecken vor Autisten zurück“, sagt Maria Kaminski, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Autismus Deutschland. Für die Betroffenen sei das tragisch. Arbeit sei schließlich immer mit Würde und Selbstbewusstsein verbunden. Sie bedauert: „Jemand, der mental oder in der Empathie beeinträchtigt ist, fordert offenbar viele nichtautistische Mitarbeiter zu sehr heraus, bedeutet zu viel Anstrengung für ein Unternehmen.“
Tatsächlich: Bei SAP muss ein Team intensiv geschult werden, bevor ein autistischer Mitarbeiter dazustößt. Außerdem werden die Büros, wenn nötig, umgestaltet oder anders ausgestattet. Mal wird eine Trennwand eingezogen, oder die autistischen Mitarbeiter bekommen Kopfhörer, um Umgebungsgeräusche, die sie besonders stressen können, auszublenden. „Im Großraumbüro würde ich mich unwohl fühlen. Dort könnte ich mich nicht gut drauf einstellen, was passiert“, bestätigt Domenik Hein. Routinen und Kontinuität sind für ihn im Arbeitsalltag ungemein wichtig.
Ein sogenannter Buddy, der im gleichen Team arbeitet, und ein Mentor als übergeordneter Ansprechpartner stehen jedem Mitarbeiter zur Seite, um ihm beispielsweise die vielen ungeschriebenen Gesetze der Arbeitswelt zu erklären: Warum der Chef komisch guckt, wenn man schon beim Einstand nach Urlaub fragt, oder was es mit Small-Talk auf dem Flur auf sich hat. Beides verstehen Menschen mit Autismus oft nicht. Warum nicht einfach nach Urlaub fragen und wozu Small-Talk über das Wetter führen, wenn doch am Morgen im Wetterbericht stand, wie warm oder kalt es wird? Bei solchen Problemen können die Buddys und Mentoren Übersetzer sein. Seit 2015 kooperiert das Unternehmen außerdem sowohl mit dem Kommunalverband für Jugend und Soziales in Baden-Württemberg als auch dem Integrationsfachdienst. Eine Mitarbeiterin des Fachdienstes ist täglich für die autistischen Mitarbeiter da, um sie in psychosozialen Fragen zu beraten und zu coachen.
SAP soll andere inspirieren
Maria Kaminski vom Bundesverband ist froh, dass tendenziell immer mehr Unternehmen bereit sind, solche Anstrengungen zu unternehmen, weil sie die Fähigkeiten von Autisten erkennen. Neben SAP stellen die Mobilfunkunternehmen Vodafone und Telekom sowie der Wirtschaftsprüfer Deloitte Autisten ein. Kaminski hebt vor allem das Berliner Unternehmen Auticon hervor. Der Vater eines Autisten hat die IT-Beratung 2011 gegründet, die ausschließlich auf Autisten als Softwaretester setzt. Gegenwärtig sind das 150 Mitarbeiter. Zu Auticons Kunden gehören der Technologiekonzern Siemens oder der Schuhhändler Deichmann; unter anderem hat der britische Milliardär Richard Branson investiert. Solche Beispiele sollten auch andere Firmen inspirieren, findet Kaminski. Denn die Anstrengung lohnt sich.
Bei SAP haben die Autisten das Betriebsklima verändert. „Den nichtautistischen Kollegen wird bewusster, wie ineffizient sie manchmal kommunizieren“, sagt Projektleiter Marco Fien. Bei der Zusammenarbeit mit Autisten komme es darauf an, persönliche Dinge außen vor zu lassen und auf der Sachebene zu kommunizieren. Dadurch werden die Abläufe effizienter. Auch die Teammeetings seien jetzt oft besser strukturiert, sagt Fien.
SAP, Weltmarktführer bei Unternehmenssoftware mit einem Umsatz von 24,7 Milliarden Euro, profitiert finanziell von den neuen Mitarbeitern. „Wir erreichen Talente und Potenziale, die von anderen Unternehmen ungenutzt bleiben“, sagt Fien, „das stellt natürlich einen klaren wirtschaftlichen Vorteil dar.“Es gebe beispielsweise einen autistischen Kollegen, der ein Patent entwickelt habe. Der Mitarbeiter entdeckte die Lösung für ein Problem, an dem alle anderen im Konzern gescheitert waren. Ein anderer Kollege in Irland sei mittlerweile zum Manager aufgestiegen.
Neuer Mut zur Offenheit
Und ganz nebenbei, quasi von allein, ist etwas im Unternehmen passiert, womit vorher keiner gerechnet hatte. Mitarbeiter, die schon lange bei SAP arbeiten, trauen sich vermehrt, sich zu outen und offen mit ihrem „Anderssein“umzugehen. „Wir haben da keine Zahlen, aber es ist ein stetiger Anstieg an Mitarbeitern, die sich uns anvertrauen“, erzählt Fien.
Bei alldem ist klar: „Eine Autismusdiagnose alleine ist natürlich noch keine Jobgarantie“, sagt Fien. SAP prüfe, welche Stärken, fachlichen Kompetenzen und vor allem Passion der jeweilige Kandidat für die IT mitbringe – entgegen des Klischees sei es nämlich nicht immer nur die Informatik, in der autistische Menschen ihre Talente entfalten können. „Und es ist uns wichtig, realistisch abzuschätzen, ob jemand in einem großen dynamischen IT-Unternehmen wie SAP arbeiten kann.“Fien erzählt von einem Bewerber, für den die Anfahrt zum Vorstellungsgespräch schon eine so große Belastung war, dass er gar nicht zum Gespräch erschienen ist.
Domenik Hein hingegen hat schon seinen Platz im Unternehmen gefunden. Seine Arbeit gefällt ihm sehr gut. Und sogar den eigentlich bei Autisten unbeliebten Small-Talk auf dem Flur macht er gerne. Dafür hat er sein ganz eigenes System entwickelt. „Ich habe eine imaginäre Schublade mit Anekdoten im Kopf“, sagt er, „und Small-Talk heißt, dass ich meinem Gegenüber zuhöre und dann warte, bis ich passend zu dem, was mein Gegenüber sagt, eine Anekdote aus der Schublade in meinem Kopf ziehe und zum Besten gebe.“So macht Domenik Hein das. Einfach. Logisch.
„Das waren die aufklärungsreichsten 20 Minuten meines Lebens.“Domenik Hein über seine Recherche zum Asperger-Syndrom