Was vom Versailler Vertrag heute nachwirkt
Wangens Stadtarchivar Rainer Jensch referiert zum „bitteren Frieden“– Zahlreiche Zuhörer
WANGEN - „Der Zweite Weltkrieg führte in die totale Katastrophe. Aus ihr erwuchs schließlich der Friede, den wir bis heute genießen dürfen.“Es waren – fast – die Schlussworte, die Stadtarchivar Rainer Jensch hinter seinen 90-minütigen Vortrag am Mittwochabend in der Badstube setzte. Auf Einladung der Kulturgemeinde führte Jensch anlässlich des vor 100 Jahren geschlossenen Versailler Vertrags seine Zuhörer zurück in eine Zeit, als auch in Wangen Hyperinflation, Hunger und vielschichtige Kriegsfolgen das Leben bestimmten. Sie mündeten schließlich in den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg.
Kultur, sagte Jörg van Veen, Vorstandsmitglied der Kulturgemeinde Wangen, seien nicht nur schöne Gemälde oder harmonische Musik: „Kultur ist auch der Spiegel der Gesellschaft.“Als Aufgabe sehe es die Kulturgemeinde auch, Zusammenhänge und Zeitbezüge im Auge zu behalten gerade in Zeiten der sich verändernden, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in Deutschland und Europa. „Es hat den Anschein, dass der Gnade der späten Geburt die Gnade abhandengekommen ist“, sagte van Veen. Dem gelte es zu begegnen.
„Alle Hoffnungen auf erträglichen Frieden platzten“
Für dieses Vorhaben hat sich die Kulturgemeinde Stadtarchivar Rainer Jensch geholt, der über „Der bittere Frieden. Versailler Vertrag 1919. Auch für Wangen ein Gang in schwere Zeiten“referierte. Jensch blickte dabei auch zurück in die Kriegsjahre 1914 und 1918, die ungemeine Kriegsbegeisterung, zu zehn Millionen Todesopfer und 20 Millionen Verwundete und auf jenen Frieden, der formell schließlich am 10. Januar 1920 in Kraft trat. „Als vor 100 Jahren die Friedensbedingungen bekannt wurden, da platzten alle deutschen Hoffnungen auf einen erträglichen Frieden“, erinnerte Jensch.
Am 6. Juni 1919 unterzeichnete Deutschland das Friedensdiktat, das unter anderem die Höhe der deutschen Schulden auf 269 Milliarden Goldmark festsetzte und Gebiets-, Kohlegruben-, Kolonialbesitz-, Schifffahrtsstraßen-, Sachgüter- und andere Abtretungen nach sich zog. In den Folgejahren strömte eine Million Deutsche aus den abgetretenen Gebieten ins Restreich, was die Wohnungsnot weiter verschärfte. Schon 1919 beschreibt Jensch als jenes Jahr, „in welchem Wangen eine der größten Versorgungskrisen durchlitt“. Gleichzeitig verlor die Mark immer mehr an Wert. Jensch: „Die in einer Hyperinflation endende Finanzkrise war schon in vollem Gang.“Jensch untermauerte seinen Blick auf die gesamtdeutsche Situation mit vielen Fotos und Schaubildern sowie mit Zitaten, die auch den Alltag beschrieben. Exemplarisch sei jenes aus der Zeit vor Weihnachten 1919 genannt, als Friedrich Messer vom Arbeiterausschuss der Baumwollspinnerei sagte: „Grasse Teuerung, enormer Verdienstverlust gepaart mit Arbeitslosigkeit und Mehrverbrauch für kaum erschwingliches und erhaltbares Heizungsmaterial stehen vor der Türe.“Um der Brennmaterial-Not einigermaßen Herr zu werden, wurden in Oberschwaben Torfmoore ausgebeutet. Die Stadt Wangen beteiligte sich im Haidgauer Moos und bei der 1919 gegründeten Torf-Betriebsgesellschaft Aulendorf. Außerdem pachtete sie Torfstiche im Arrisrieder Moos. Auch Wälder wurden abgeholzt, um Kartoffeln anzupflanzen. Ein sehr drastisches Beispiel der Verzweiflung schilderte Jensch mit der Geschichte eines 30jährigen Ravensburgers, der sich mit einem Revolver erschießen wollte: „Die Kugeln blieben ihm jedoch im Schädel stecken, ohne seinen Tod herbeizuführen.“Kurz nach seinem Suizidversuch suchte er bei der Polizei Hilfe – und bat um etliche Patronen, um seinem Leben ein Ende setzen zu können. Er wurde ins Elisabethen-Krankenhaus eingeliefert. Jensch verschwieg aber auch nicht, dass „ein großer Teil der Wangener Wirtschaft mit der landwirtschaftlichen Produktion verwoben war“. Und damit vom bäuerlichen Umland profitierte. Die Inflation griff dennoch immer weiter und schneller um sich. Jensch zeigte dies anhand von Aufzeichnungen des Leupolzer Schultheißes Fricker auf, nach denen zwischen November 1922 und November 1923 der Preis für einen Liter Milch von 85 Mark auf zwei Milliarden Mark und zwei Wochen später sogar auf 15 Milliarden Mark stieg.
In den Strudel des wirtschaftlichen Niedergangs sog es in Wangen auch die zahlreichen Stiftungen, die auf unterschiedliche Weise das Gemeinwesen stützten. „Die älteste der Stiftungen reichte bis ins Jahr 1589 zurück, die bedeutendste war die Gegenbaur-Stiftung aus dem Jahr 1876.“Allesamt wurden sie ausgelöscht. Zu den großen Problemen zählte laut Jensch auch der zunehmend schlimmer werdende Wohnungsmangel, angeheizt auch durch vertriebene Familien aus dem Rheinland. Schon im März 1919 wurde durch das Wohnungsamt eine Wohnraum-Zwangsbewirtschaftung eingeführt: „Jeder nutzbare Winkel wurde bewohnbar gemacht.“1922 erfolgte der Umbau des Spitals zu einem städtischen Altersheim – auch, um dringend benötigten Wohnraum freizusetzen. „Zu Beginn der 1920er-Jahre lief der Wohnungsbau langsam an“, erzählte Jensch. Als Beispiele seien die „Beamtenhäuser“an der Praßbergstraße, die Mehrfamilienhäuser der Zellstofffabrik an der Isnyer Straße, die Arbeitersiedlung der Baumwollspinnerei bei der Alpenstraße oder auch die privaten Kleinhäuser im Praßberg ab 1922, das Kriegerheim (siehe „Auf einen Blick“) und die Gehrenbergsiedlung ab 1927 genannt. Als „abschreckendes Beispiel“für Mietschuldner baute die Stadt 1926 die Argensiedlung mit zunächst zwei, später weiteren Baracken. Ab 1929 kamen auch ausgediente Eisenbahnwaggons hinzu.
„Es hat den Anschein, dass der Gnade der späten Geburt die Gnade abhandengekommen ist“, sagte Jörg van Veen.
Wanderarbeitsstätte und Wohlfahrtsküche
Hochkonjunktur hatte in den 1920erJahren auch die „Wanderarbeitsstätte“im „Alten Bad“, der heutigen Badstube an der Langen Gasse. Sie gewährte obdachlosen und mittellosen Menschen Nachtlager und Verpflegung. Im Winter 1923 musste auch eine Wohlfahrtsküche eingerichtet werden, um die Ärmsten vor dem größten Hunger zu bewahren. Der Zeitraum zwischen 1924 und 1929 war, so Jensch, mit einem „gewissen, wirtschaftlichen Aufschwung verbunden“, bis die Weltwirtschaftskrise auch diesen wieder beendete. Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre formierten sich auch in Wangen radikale Kräfte, die schließlich im Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg endeten. „Die Hauptursache der wirtschaftlichen Not Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg waren die drückenden Lasten des bitteren Friedensdiktats von 1919“zog Jensch Bilanz. Und er zitierte Theodor Heuss, der einst in „Hitlers Weg“schrieb: „Der Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles.“
„Wenn uns das Wissen um unsere deutsche Vergangenheit dabei hilft, das hohe Gut des Friedens zu schützen und zu bewahren, dann hat dieser Vortrag seinen Zweck erfüllt“, sagte Jensch dann wirklich ganz zum Schluss. Es kann festgestellt werden: Der Vortragsabend tat dies deutlich lebendiger und informativer als lediglich „zweckerfüllend“.