„Immer war das Glück auf unserer Seite“
Zeitzeuge spricht vor gerührtem Publikum über Zeit als Jude in Nazideutschland
WANGEN - Nachdem er bereits am Vormittag vor Neuntklässlern gesprochen hatte, sind es am Freitagabend in der Aula der Johann-Andreas-Rauch-Realschule Kinder, Jugendliche wie Erwachsene, die sich von den Berichten Walter Frankensteins in den Bann ziehen lassen. Der 95-Jährige ist zum ersten Mal in Wangen und sagt zu Beginn der zweistündigen Veranstaltung: „Wenn ich meine Botschaft anbringen kann, dann hat sich die Reise gelohnt.“
Er sitzt auf der improvisierten Bühne inmitten von fünf Moderatorinnen wie ein weiser, leicht lächelnder Geschichtenerzähler aus einer anderen Welt. Doch was er übermittelt, das ist so greifbar nahe und so aktuell wie nie: Walter Frankenstein hat es sich zur Verpflichtung gemacht, jungen Menschen zu sagen: „Schaut nicht weg, denkt selbst und macht euch ein eigenes Bild.“Und mit klaren, unmissverständlichen Worten fügt er an: „Die Demokratie muss jeden Tag neu erkämpft werden.“
Schülerinnen lesen aus Buch vor
Die Realschülerinnen Chiara Kloos, Maxine Schädler, Saskia Schnell, Paulina Biggel und Karla Schönherr stellen Fragen oder lesen Passagen aus dem Buch „Nicht mit uns – das Leben von Leonie und Walter Frankenstein“. Es ist mucksmäuschenstill im Raum. Was da zu hören ist, macht betroffen, rührt hier und da zu Tränen. Kann es wirklich sein, dass ein Volk so einer Verfolgung, so einem unmenschlichen Terror bis hin zur Vernichtung unterworfen ist? Die Frage nach dem „Warum“drängt sich auf – und muss unbeantwortet bleiben.
Leonie und Walter Frankenstein wie ihre beiden Söhne haben überlebt. Sie können untertauchen, leben in der Illegalität. „Es gab mehr Gelegenheiten, nicht zu überleben als zu überleben“, sagt Frankenstein und denkt in diesem Zusammenhang an die vielen Menschen, die geholfen haben. Er ist überzeugt davon: „Einer allein hätte es nicht schaffen können.“Und er macht die Rechnung auf: „Auf einen verborgen gehaltenen Juden kamen 40 Frauen und Männer, die ihr eigenes Leben riskierten.“
Momente zum Schmunzeln
Bei aller Schwere und allem, was den Atem stocken lässt, darf an diesem Abend auch geschmunzelt werden. Dann, als Frankenstein beispielsweise erzählt, wie er anfangs frech und furchtlos genug war, um trotz Verboten Theateraufführungen und Konzerte zu besuchen. Oder nach fünf durchhungerten Tagen im Luftschutzbunker die Russen nicht mit Brot, sondern mit Wodka kommen zu sehen. Walter Frankenstein erinnert sich lebhaft: „Eine Stunde nach der Befreiung war ich total besoffen.“
Nachdem der 95-Jährige zusammenfassend von dem Glück gesprochen hat, „dass immer auf unserer Seite war“, und Sängerin Sarah Beilicke vor allem ein wundervolles „Imagine“von John Lennon intoniert hat, ergreift Oberbürgermeister Michael Lang das Wort. Er lässt die „verdrängten Jahre in Wangen“auferstehen und beschreibt das Schicksal von Juden, die ihren Lebensmittelpunkt bis 1938 in der Allgäustadt hatten. Um die an der Kirchhofmauer von St. Martin angebrachte Tafel in Wort und Bild vorzustellen und dazu aufzufordern, das Erinnerungszeichen an die NS-Zeit „mal mit Schulklassen aufzusuchen“.
Lang dankt den fünf Moderatorinnen mit den Worten „Ihr macht mich stolz und glücklich und tragt dazu bei, dass so etwas Schreckliches nie wieder auf deutschem Boden geschehen kann!“
Auf dem Heimweg sind gerade sehr junge Besucher noch äußerst schweigsam. Ja, der Abend sei sehr interessant gewesen, sagen sie etwas kleinklaut und auch, dass sie zwar schon einiges über die Zeit gehört hätten, „aber noch nie aus dem Mund eines Zeitzeugen“. Eine Wangenerin zeigt sich verwundert, dass sich Walter Frankenstein dazu bekennt, seinen Glauben schon recht früh verloren zu haben und sich seither „Atheist“nennt. Habe Gott ihm nicht geholfen, zu überleben? Diese Frage entschwindet mit der Frau in die Nacht.