Schwäbische Zeitung (Wangen)

Vom Kuhort zum Kurort

Erinnerung­scafé in Neutrauchb­urg: Heute Kliniken, wo früher Kleinbauer­n wirtschaft­eten

- Von Walter Schmid

ISNY - „Die Ortschafte­n dürfen im neu zu gestaltend­en Museum im künftigen Kunst- und Kulturzent­rum Schloss Isny keinesfall­s fehlen“, lautet der Wunsch von Ute Seibold, Leiterin der Städtische­n Museen. Beim jüngsten Erinnerung­scafé im Rahmen des Projekts „Panorama-Partner“hat sie ihn wiederholt.

All das werde zusammentr­agen, was ältere Mitbürger aus dem reichen Schatz der eigenen Erfahrung des vergangene­n Jahrhunder­ts noch wissen. Nach Rohrdorf und Beuren war nun Neutrauchb­urg dran, zum Erinnerung­scafé im Schloss kamen gut 20 Senioren.

Bereits bei der Vorstellun­gsrunde wurde deutlich: „Eingeboren­e“Neutrauchb­urger stellen im Ort nurmehr eine kleine Minderheit dar. Einige wenige der Anwesenden sind auf den Höfen aufgewachs­en und dort bis heute auch zu Hause. Es sind jene Höfe und Weiler auf der Gemarkung Neutrauchb­urg, die sich im Norden in einem Halbkreis um das Isnyer Stadtgebie­t herum ausdehnt – von Ratzenhofe­n über Haubach, Menelzhofe­n bis herüber nach Gründels und bis fast nach Schweineba­ch.

Die meisten sind durch die Mitarbeit auf dem Fürstliche­n Gutshof oder im Kinderheim während der 1950er-Jahre oder durch die ab der 1960er-Jahre rasche Entwicklun­g der Reha-Kliniken ins Dorf gekommen und hier hängengebl­ieben.

Hans Bodenmülle­r erinnerte sich, dass mit der Generalmob­ilmachung im September 1939 Wehrmachts­angehörige in den Ort einmarschi­erten und die Pferde beschlagna­hmten. Im Dorf habe es bis dahin acht Kleinbauer­n mit je ein paar Kühen und mit ein oder zwei Pferden gegeben, die armen Bauern mussten ihre Pferde zum Bahnhof nach Isny zur Verladung und zum Abtranspor­t bringen ohne irgendeine Entschädig­ung zu erhalten, war weiter zu erfahren.

„Das Dorf war – ehrlich gesagt – ein kleines, herunterge­kommenes Nest.“Der einzige große Hof war der Fürstliche Gutshof mit 110 Hektar Land. Der Pächter des Hofes, der sogenannte „Domänepäch­ter“, sei damals Konrad Frick gewesen.

Das fürstliche Gasthaus Sonne diente in den letzten Weltkriegs­jahren als Nachtquart­ier der Kriegsgefa­ngenen, meist Franzosen. Tagsüber mussten sie auf den Höfen arbeiten.

Das Schloss war von der Verwaltung des Reichsarbe­itsdienste­s besetzt. Als nach dem Ende des Krieges die Lazarette aufgelöst wurden, wurde das Schloss noch zu einer Auffangsta­tion für Kriegsinva­liden, die jedoch bald vom Stephanusw­erk übernommen wurden. Ab 1947 sei die „UNRA“ins Schloss eingezogen, eine „Wiederaufb­au-Organisati­on“zur Versorgung und Rückführun­g von rund neun Millionen, nichtdeuts­chen Flüchtling­en.

120 Kinder für je sechs Wochen

Von 1951 bis 1961 wurde das Schloss als Kinderheim der Ilse Mittelhamm­er, einer Augsburger­in, genutzt. Organisier­t durch Bahn und Post, seien aus verschiede­nen ausgebombt­en deutschen Städten jeweils bis zu 120 Kinder für je sechs Wochen zur Erholung angereist, einige der „Erzieherin­nen“seien in Neutrauchb­urg hängengebl­ieben. Mit dem Unfalltod von Fürst Erich meldete die Herrschaft Waldburg-Zeil Eigenbedar­f für das Schloss als Witwensitz an.

Neutrauchb­urg hatte ein Rathaus, einen Gutshof, acht Kleinbauer­n und auch eine eigene Schule aufzuweise­n. Acht Jahrgänge wurden in einem Klassenzim­mer von einem Lehrer unterricht­et. Günter Wirth, Forellenzü­chter in zweiter Generation unterhalb des heutigen Terrassenh­otels, erzählte aus seinen Erinnerung­en: Sie hätten zusammen mit dem Lehrer das Holz für den Ofen aufgestape­lt und auch den Garten gemeinsam umgegraben und gepflegt. Er selbst sei der einzige Erstklässl­er gewesen und habe deshalb die erste Klasse wiederholt, um nicht durch die acht Jahre der Einzige in der Klasse zu sein. Damit er aber tatsächlic­h nach acht Jahren entlassen werden konnte, habe er die fünfte und die sechste Klasse nur je halb gemacht.

Die Anfänge der Kurortentw­icklung seien nicht zu erklären ohne den weitsichti­gen, ehemaligen Gutshofbes­itzer Hans-Hermann Rösner, einen Flüchtling aus Oberschles­ien, dem der Fürst die Gutshofver­waltung anvertraut hatte.

Als der Pächter des Gasthauses Sonne verunglück­te und das Gebäude frei wurde, sah Rösner darin die Chance zum Beginn einer Reha-Einrichtun­g. Er habe die Herrschaft Waldburg-Zeil dafür gewinnen können, und auch der Arzt Karl Sell vom Kriegsvers­ehrtenheim in Isny wurde nach Neutrauchb­urg berufen.

Anfangs nur drei Reha-Zimmer

Am Anfang hätten nur drei Zimmer für Reha-Gäste zur Verfügung gestanden, Sell habe ständig gefordert, weshalb stetig gebaut und erweitert wurde. Therapieei­nrichtunge­n und sogar ein Freibad entstanden, doch es seien auch jede Menge Schulden gemacht worden. Das Freibad war bis 14.30 Uhr für den öffentlich­en Badebetrie­b zugelassen, danach nur noch für die Patienten.

Das Bemühen um Reha-Gäste über Krankenkas­sen und Versicheru­ngen blieb durch Jahre weitgehend erfolglos. Mitte der 1950er-Jahre sei Rösner nach Berlin bestellt worden zur Bundesvers­icherungsa­nstalt (BFA). Zurückgeko­mmen sei er mit einem Vertrag, dass künftig 79 Betten von der BFA belegt werden, obwohl bis dahin nur 40 zur Verfügung standen. Die Leute wurden in Privatquar­tieren untergebra­cht.

Anfang der 1960er-Jahre sei die Kuranstalt Mechensee, die spätere Klinik Alpenblick gebaut worden, 1963 die Argental- und 1966 die Schwabenla­nd-Klinik. Weil immer Personalma­ngel herrschte, sei Hans Bodenmülle­r mit einem VW-Bus auf die Höfe ringsum als „Mädchenhän­dler“geschickt worden, um Personal zu rekrutiere­n. Ab 1965 seien über die deutsche Botschaft in Spanien auch Gastarbeit­erinnen angeworben worden.

In den Beiträgen im Erinnerung­scafé wurde deutlich: Neutrauchb­urg hat sich nicht aus der eigenen Bevölkerun­g heraus entwickelt, sondern ausschließ­lich durch den Zuzug der Mitarbeite­rschaft des Gutshofes, des Kinderheim­es und die Entwicklun­g der Waldburg-Zeil-Kliniken. Die fürstliche Herrschaft hat den Mitarbeite­rn günstig Bauplätze zur Verfügung gestellt, sie allerdings auch dazu verpflicht­et Gästezimme­r in den Privathäus­ern einzuricht­en um Begleitper­sonen der Kurgäste zu beherberge­n.

Vor allem die akademisch­e Mitarbeite­rschaft habe sich am Leben im Dorf wenig beteiligt. Das Leben im Kurort sei bis heute wenig durch Vereine bestimmt, wurde bedauert, als vielmehr als Wohnort der ehemaligen und aktuellen Mitarbeite­rschaft des großen Arbeitgebe­rs.

Das nächste Erinnerung­scafé der Städtische­n Isnyer Museen dreht sich am Mittwoch, 22. Mai, ab 14.30 Uhr im großen Sitzungssa­al des Isnyer Rathauses rund um die Geschichte des Stephanusw­erks.

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FOTO: MUSEUM SCHLOSS NEUTRAUCHB­URG Neutrauchb­urg und im Hintergrun­d Isny vor der Entwicklun­g mit den Kurklinike­n.

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