Psychogramm eines todessehnsüchtigen Thronfolgers
Das Stuttgarter Ballett belebt Kenneth MacMillans „Mayerling“neu und wird bei der Premiere gefeiert
STUTTGART - Eine schwarze Kutsche, Regen, Morgennebel über den Wiesen, ein anonymes Begräbnis, das Ende ist der Anfang: Zum Schluss kehrt die düstere Szene wieder, dann mit der Leiche von Mary Vetsera, die in den Sarg gelegt wird. Dazwischen ziehen drei Stunden intensives Tanztheater rund um den österreichischen Kronprinzen Rudolf in ihren Bann, der 1889 im Jagdschlösschen Mayerling zuerst seine Geliebte und dann sich selbst erschoss.
Der schottische Choreograf Kenneth MacMillan hatte „Mayerling“1978 für das Royal Ballett in London geschaffen, die Choreografie wird von der Witwe MacMillans gehütet. Stuttgarts neuer Ballettintendant Tamas Detrich und die langjährige Ballettdirektorin Marcia Haydée aber haben Altmeister Jürgen Rose, der eng mit dem Stuttgarter Ballett verbunden gewesen war, mit einer neuen Ausstattung beauftragt. Über drei Jahre vertiefte sich Rose in die Geschichte, zeichnete Figurinen und Prospekte, studierte die Kostüme der kaiserlichen Hofgesellschaft und die historischen Räume der Hofburg. Entstanden sind Bühnenräume, die wie Schwarz-Weiß-Fotografien der Zeit wirken, gedruckt auf leichtem Tüll, der auch perspektivische Tiefenwirkung ermöglicht.
Ein Rausch der Bilder
Da gibt es ausgestopfte Vögel, Bücher, Skelette und Totenköpfe im Schlafzimmer des sensiblen Kronprinzen, der sich für Ornithologie und Geschichte interessierte, aber weniger für die ihm aufgezwungenen militärischen Aufgaben. Das Schlafzimmer der Kaiserin Sisi zieren Gemälde ihrer Pferde, historische Möbel und eine Gymnastikstange der auf ihre Figur bedachten Monarchin. Stuttgarts Theaterwerkstätten haben sich dazu hineingekniet in die Produktion höchst unterschiedlicher Ballkleider, Uniformen und Trachtenkostüme, individuell und detailreich zugeschnitten auf jede Tänzerin, jeden Tänzer. Das Ergebnis ist ein Rausch der Bilder und ein Fest für die Augen, vom ersten Defilee der Paare bei der Hochzeit Rudolfs mit der ungeliebten Prinzessin Stephanie über die düstere Spelunke, wo sich Dirnen und ungarische Offiziere vergnügen, bis zur Jagdgesellschaft im Wald mit kapitalem Hirsch, Lodenjoppen und Trachtenhüten. Der mittlerweile 81-jährige Bühnenund Kostümbildner Jürgen Rose wurde beim Schlussapplaus mit Ovationen bedacht, als sich das versammelte Premierenpublikum geschlossen von den Sitzen erhob.
Doch natürlich ist die neue Produktion von „Mayerling“auch ein Fest des Stuttgarter Balletts mit seinem Solisten Friedemann Vogel, der die Entwicklung Rudolfs, die Beziehungen zu den Frauen, die zunehmende Zerrüttung durch Syphilis, Morphiumspritzen und Wahn auf tänzerisch wie schauspielerisch höchst intensive Weise verkörpert. Fast in jeder Szene ist er auf der Bühne, hat sieben kraftvolle Pas de deux mit den verschiedenen Partnerinnen, gibt sich hinein in Verzweiflung und Ekstase.
Kenneth MacMillan hat ein beklemmendes Psychogramm eines Menschen geschaffen, der seine kühle Mutter Sisi (Miriam Kacerova in vollendeter Haltung) verehrt, seine Braut Stephanie (Diana Ionescu, eine junge Tänzerin aus den Reihen des Corps de Ballet) in der Hochzeitsnacht aber mit einem Totenkopf und einem Pistolenschuss erschreckt und vergewaltigt. Alicia Amatriain umschwärmt ihn als seine ehemalige Geliebte Gräfin Larisch, Anna Osadcenko ist die temperamentvolle Mätresse Mizzi Caspar in der Spelunke. Die fünfte in der Schar der Frauen um Kronprinz Rudolf/Friedemann Vogel ist Elisa Badenes als Mary Vetsera, die die jugendliche Verliebtheit ebenso schmetterlingsleicht verkörpert wie die schicksalhafte Verstrickung und verzweifelte Hingabe im letzten Tanz.
13 Szenen in drei Akten
Schließlich wartet das Stuttgarter Ballett auch mit seinen zwei alten Damen auf: Marcia Haydée gibt die gestrenge Erzherzogin Sophie, die Mutter von Kaiser Franz Joseph, Georgette Tsinguirides entwickelt auch mit 92 Jahren Bühnenpräsenz als deren Hofdame. Unter den Herren ragen der sprungstarke Adhonay Soares da Silva als Rudolfs Leibfiaker Bratfisch und Roman Novitzky als Liebhaber der Kaiserin heraus.
Getragen werden die 13 Szenen in drei Akten von der Musik von Franz Liszt, die für diese Choreografie von John Lanchbery bearbeitet und orchestriert wurde und vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Mikhail Agrest mit dunkel glühenden Farben interpretiert wird.
Was damals in Mayerling wirklich passiert ist, weiß niemand genau, vieles wurde vertuscht. Das Ballett von Kenneth MacMillan, der selbst auf tragische Weise während einer Aufführung hinter der Bühne verstarb, ermöglicht in dieser neuen Stuttgarter Fassung einen faszinierenden Blick auf die Geschichte.
Die weiteren Termine im Mai und Juni sind bereits ausverkauft. Karten gibt es derzeit nur noch für den Sonntag, 28. Juli, unter: