Selfie mit Kevin
Der Juso-Chef fordert in Überlingen höhere Steuern für große Konzerne – und mehr Mitbestimmung für Jugendliche
ÜBERLINGEN - Das linke Schreckgespenst der deutschen Politik trägt einen grauen Pullover, Jeans und Turnschuhe. Viele haben sich in den vergangenen Wochen über Kevin Kühnert geärgert, einige haben den Juso-Chef verdammt für seine Ideen zur Verstaatlichung von Konzernen wie BMW.
Hier aber, im Kursaal des Bad Hotel in Überlingen, weit weg von Berlin mit Blick auf den Bodensee, wird er geliebt. Im Saal ist Platz für 450 Menschen, viele Gäste der Veranstaltung des SPD-Kreisverbands Bodenseekreis müssen während seines Vortrags stehen.
Es geht darin nur am Rande um die Sozialismus-Thesen aus dem „Zeit“-Interview, für die er auch von einigen seiner Genossen heftigen Gegenwind erhalten hatte. Es geht an diesem Montagabend um die Fragen „Braucht Europa die SPD?“und „Braucht die Jugend Europa“? Die erste Frage beantworten derzeit 17 Prozent der Wahlberechtigten mit „Ja“. Auf dieses Ergebnis kommen die Sozialdemokraten bei der Europawahl laut aktuellen Umfragen.
Dürften die vielen jungen Besucher am kommenden Sonntag ihr Kreuzchen machen, wäre es wohl ein höheres. Studenten, Schüler, einige von ihnen noch nicht im wahlberechtigten Alter, schwärmen in Richtung Bühne, als würde ein Popstar in sein Headset-Mikrofon singen, statt Sätze wie diesen zu sagen: „Niemand muss so weit gehen, wie ich in diesem Interview gegangen bin. Ich möchte, dass wir keine Denkverbote in unserer Gesellschaft haben, wenn es um die Frage geht, ob wir nicht zu viele Bereiche unseres Lebens dem Markt geopfert und für die Profitorientierung freigegeben haben.“
Würde statt Profit
Das betreffe beispielsweise die Pflege – ein Thema, das für viele der jungen Kühnert-Fans wohl noch weit weg ist. „Ich möchte, dass wir verstehen, dass wir uns entscheiden müssen zwischen Würde bis zum letzten Lebenstag oder dem Anspruch, neun oder zehn Prozent Rendite im Jahr an die Anteilseigner von Pflegekonzernen auszuzahlen“, sagt der 29-Jährige.
Zurück in die Lebenswelt der Jugendlichen kommt Kühnert, als er von den großen Digitalkonzernen spricht – oder vielmehr von ihrer Besteuerung. Deutschland sei alleine viel zu klein, um auf Augenhöhe mit Firmen wie Facebook, Amazon und Google zu sein. Diese würden nur mit den Schultern zucken, würde Deutschland ihnen strengere Spielregeln diktieren.
Daher müsste die EU Steueroasen in Irland, Malta und Luxemburg trockenlegen. In Zukunft müsse gelten: „Wer hier Geschäfte macht, der zahlt hier seine Steuern. Und wer hier immer noch keine Steuern zahlt, macht in Zukunft keine Geschäfte mehr“, so Kühnert.
Ernst nehmen – und hier beantwortet er die zweite Frage – sollte man auch die Jugend. Das gelte auch für die Kommunalwahl, bei dem man vielleicht dem jungen Kandidaten eine Chance geben sollte statt dem „Jürgen, weil man ihn kennt und der das schon so lange macht“.
Auf der europäischen Ebene fühlen sich laut Kühnert viele junge Menschen nicht repräsentiert. Jugendliche aus sozial schwächeren Schichten würden von EU-Programmen wie Erasmus nicht profitieren. Andere wiederum könnten sich mit „Schlipsträgern, die 30 oder 40 Jahre älter sind“nicht identifizieren. Genau hier müsse man ansetzen und mehr junge Menschen für die Politik begeistern.
Der Juso-Chef und Politiker-Antitypus Kühnert – das gilt zumindest für diesen Abend – hat das wohl geschafft. Mädels und Jungs reihen sich nach der Veranstaltung für ein Selfie mit ihm ein.