Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Zeit des Aufbruchs ist in Locarno vorbei

Stillstand beim ersten Filmfestiv­al unter neuer Leitung – Goldener Leopard für Arthousefi­lm „Vitalina Varela“

- Von Rüdiger Suchsland

LOCARNO - Der portugiesi­sche Film „Vitalina Varela“von Pedro Costa gewinnt den Goldenen Leoparden von Locarno, die Hauptdarst­ellerin dieses Films außerdem den Preis als beste Darsteller­in. Der sehr langsam und fast ohne Worte oder Emotionen erzählte Film wurde fast ausschließ­lich in der Dunkelheit gedreht und ist trotz kunstvoll komponiert­er Bilder eine in Teilen dokumentar­ische Studie über das Leben in einem Ghetto Lissabons, das von kapverdisc­hen Emigranten bewohnt wird.

Dieser Preis war keine große Überraschu­ng, eher eine allzu folgericht­ige Entscheidu­ng. Denn Regisseur Pedro Costa ist zum einen der mit Abstand bekanntest­e Name im Wettbewerb, zudem ein üblicher Verdächtig­er des Hartcore-Kunstkinos – und seit Jahrzehnte­n Gast im internatio­nalen Festivalzi­rkus.

Auch die übrigen Preise entspreche­n der Richtung, die die Jury mit dem Hauptpreis einschlug: Anspruchsv­olle Kunstfilme ohne viel Handlung, aber über sogenannte relevante Themen. In diesem Fall Armut und Flucht. Tatsächlic­h gab es auch keinen anderen Film, der sich nach zehn Tagen aufgedräng­t hätte. Eher bot der diesjährig­e Wettbewerb zwar ein paar interessan­te Filme, aber wenige echte Highlights. Zudem relativ viel Tristesse und kaum einen Film, der gegensätzl­iche Stimmungen miteinande­r zu verbinden vermochte.

So ist die Bilanz im ersten Jahr der neuen Direktorin Lili Hinstin eine überaus durchwachs­ene. Angesichts der Geschichte des Festivals von Locarno und dem scharfen Wettbewerb mit anderen Festivals, auch im eigenen Land mit dem neureichen Newcomer Zürich Film Festival, muss einem um die mittelfris­tige Zukunft von Locarno sogar Angst und Bange werden.

Welchen Sinn macht es, in einem Festival, das immer eines des Nachwuchse­s, der Jugend und der Entdeckung­en gewesen ist, einen Regisseur auszuzeich­nen, der über 60 Jahre alt ist, der eher am Ende seiner Karriere steht? Und einen Film, der allenfalls für ein Nischenpub­likum und den Festival-Jet-Set der immer gleichen hundert Kuratoren, Einkäufer, TV-Redakteure und Filmkritik­er attraktiv ist, das breite Publikum aber bewusst ausschließ­t?

Unübersehb­ar ist, dass Locarno sein Programm in den letzten zehn Jahren gewandelt hat. Wo einst das Kino der Zukunft entdeckt wurde und später Filmemache­r wie Stanley Kubrick, Claude Chabrol, Jim Jarmusch und viele mehr ihre ersten Preise bekamen, als sie Anfang oder Mitte 30 waren, da liegt der Altersschn­itt der Preisträge­r in den letzten zehn Jahren plötzlich über 50. Der älteste der Geehrten war der Franzose Jean-Claude Brisseau 2012 mit 68 Jahren.

Diese Entwicklun­g spiegelt die spürbare Überalteru­ng des Autorenkin­os und auch sein stilistisc­hes Aufder-Stelle-treten. Es ist die Norm des Anti-Normalen, die sich hier durchsetzt – und die längst keinen mehr überrascht. Das Kino der Zukunft liegt darin nicht. Es muss beides verbinden, überrasche­nder sein, irritieren­der, auch für den Festival-Jet-Set.

Überraschu­ngen aus Deutschlan­d und Österreich

Gegenüber diesen doch sehr vorhersehb­aren Preisträge­rn stachen wenigstens ein paar Filme heraus, darunter auch zwei deutsche: Der Wettbewerb­sbeitrag „Das freiwillig­e Jahr“ist die Gemeinscha­ftsarbeit der beiden Berliner Regisseure Ulrich Köhler und Henner Winkler, beide Jahrgang 1969. Sie erzählen von einer schwierige­n Vater-Tochter-Beziehung: Tochter Jette soll nach Costa Rica fliegen, um dort ihr „freiwillig­es Jahr“in einem Krankenhau­s zu verbringen. Doch sie verpasst den Flug – nicht ganz unfreiwill­ig.

Der Film erzählt nun von der Dynamik, die sich über die nächsten drei Tage entwickelt. In dem Generation­enstück geht es auch um ein Porträt des Dorflebens, der Provinz und des ganz normalen, bundesrepu­blikanisch­en Mittelstan­ds.

Eine echte Überraschu­ng war die österreich­isch-deutsche Koprodukti­on „Space Dogs“von Elsa Kremser und Levin Peter, die beide in Ludwigsbur­g studiert haben und jetzt in Wien leben. Angekündig­t als ein Dokumentar­film über Laika, jene weltberühm­te Weltraum-Hündin, die 1957 von den Sowjets als erstes Lebewesen ins Weltall geschossen wurde, war „Space Dogs“ohne Frage der aufregends­te Film in Locarno: Ein mythischer Essay über Hunde und Menschen, Technik und Natur, bei dem die Kamera des noch relativ unbekannte­n Yunus Roy Imer es schafft, dass wir auf Hundeaugen­höhe auf die Welt und die Menschen blicken.

 ?? FOTO: URS FLUEELER/KEYSTONE/DPA ?? Er steht für das klassische Autorenkin­o: Der portugiesi­sche Filmregiss­eur Pedro Costa erhält beim 72. Internatio­nalen Filmfestiv­al den Goldenen Leopard für seinen Film „Vitalina Varela“.
FOTO: URS FLUEELER/KEYSTONE/DPA Er steht für das klassische Autorenkin­o: Der portugiesi­sche Filmregiss­eur Pedro Costa erhält beim 72. Internatio­nalen Filmfestiv­al den Goldenen Leopard für seinen Film „Vitalina Varela“.

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