Die Zeit des Aufbruchs ist in Locarno vorbei
Stillstand beim ersten Filmfestival unter neuer Leitung – Goldener Leopard für Arthousefilm „Vitalina Varela“
LOCARNO - Der portugiesische Film „Vitalina Varela“von Pedro Costa gewinnt den Goldenen Leoparden von Locarno, die Hauptdarstellerin dieses Films außerdem den Preis als beste Darstellerin. Der sehr langsam und fast ohne Worte oder Emotionen erzählte Film wurde fast ausschließlich in der Dunkelheit gedreht und ist trotz kunstvoll komponierter Bilder eine in Teilen dokumentarische Studie über das Leben in einem Ghetto Lissabons, das von kapverdischen Emigranten bewohnt wird.
Dieser Preis war keine große Überraschung, eher eine allzu folgerichtige Entscheidung. Denn Regisseur Pedro Costa ist zum einen der mit Abstand bekannteste Name im Wettbewerb, zudem ein üblicher Verdächtiger des Hartcore-Kunstkinos – und seit Jahrzehnten Gast im internationalen Festivalzirkus.
Auch die übrigen Preise entsprechen der Richtung, die die Jury mit dem Hauptpreis einschlug: Anspruchsvolle Kunstfilme ohne viel Handlung, aber über sogenannte relevante Themen. In diesem Fall Armut und Flucht. Tatsächlich gab es auch keinen anderen Film, der sich nach zehn Tagen aufgedrängt hätte. Eher bot der diesjährige Wettbewerb zwar ein paar interessante Filme, aber wenige echte Highlights. Zudem relativ viel Tristesse und kaum einen Film, der gegensätzliche Stimmungen miteinander zu verbinden vermochte.
So ist die Bilanz im ersten Jahr der neuen Direktorin Lili Hinstin eine überaus durchwachsene. Angesichts der Geschichte des Festivals von Locarno und dem scharfen Wettbewerb mit anderen Festivals, auch im eigenen Land mit dem neureichen Newcomer Zürich Film Festival, muss einem um die mittelfristige Zukunft von Locarno sogar Angst und Bange werden.
Welchen Sinn macht es, in einem Festival, das immer eines des Nachwuchses, der Jugend und der Entdeckungen gewesen ist, einen Regisseur auszuzeichnen, der über 60 Jahre alt ist, der eher am Ende seiner Karriere steht? Und einen Film, der allenfalls für ein Nischenpublikum und den Festival-Jet-Set der immer gleichen hundert Kuratoren, Einkäufer, TV-Redakteure und Filmkritiker attraktiv ist, das breite Publikum aber bewusst ausschließt?
Unübersehbar ist, dass Locarno sein Programm in den letzten zehn Jahren gewandelt hat. Wo einst das Kino der Zukunft entdeckt wurde und später Filmemacher wie Stanley Kubrick, Claude Chabrol, Jim Jarmusch und viele mehr ihre ersten Preise bekamen, als sie Anfang oder Mitte 30 waren, da liegt der Altersschnitt der Preisträger in den letzten zehn Jahren plötzlich über 50. Der älteste der Geehrten war der Franzose Jean-Claude Brisseau 2012 mit 68 Jahren.
Diese Entwicklung spiegelt die spürbare Überalterung des Autorenkinos und auch sein stilistisches Aufder-Stelle-treten. Es ist die Norm des Anti-Normalen, die sich hier durchsetzt – und die längst keinen mehr überrascht. Das Kino der Zukunft liegt darin nicht. Es muss beides verbinden, überraschender sein, irritierender, auch für den Festival-Jet-Set.
Überraschungen aus Deutschland und Österreich
Gegenüber diesen doch sehr vorhersehbaren Preisträgern stachen wenigstens ein paar Filme heraus, darunter auch zwei deutsche: Der Wettbewerbsbeitrag „Das freiwillige Jahr“ist die Gemeinschaftsarbeit der beiden Berliner Regisseure Ulrich Köhler und Henner Winkler, beide Jahrgang 1969. Sie erzählen von einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung: Tochter Jette soll nach Costa Rica fliegen, um dort ihr „freiwilliges Jahr“in einem Krankenhaus zu verbringen. Doch sie verpasst den Flug – nicht ganz unfreiwillig.
Der Film erzählt nun von der Dynamik, die sich über die nächsten drei Tage entwickelt. In dem Generationenstück geht es auch um ein Porträt des Dorflebens, der Provinz und des ganz normalen, bundesrepublikanischen Mittelstands.
Eine echte Überraschung war die österreichisch-deutsche Koproduktion „Space Dogs“von Elsa Kremser und Levin Peter, die beide in Ludwigsburg studiert haben und jetzt in Wien leben. Angekündigt als ein Dokumentarfilm über Laika, jene weltberühmte Weltraum-Hündin, die 1957 von den Sowjets als erstes Lebewesen ins Weltall geschossen wurde, war „Space Dogs“ohne Frage der aufregendste Film in Locarno: Ein mythischer Essay über Hunde und Menschen, Technik und Natur, bei dem die Kamera des noch relativ unbekannten Yunus Roy Imer es schafft, dass wir auf Hundeaugenhöhe auf die Welt und die Menschen blicken.