Schwerstbehindert zum Staatsexamen
Timo Karff ist von Geburt an komplett auf Pflege angewiesen – und studiert in Augsburg Jura
- Seit Stunden flitzen sie nun schon über die Tastatur des Laptops: zarte, flinke Finger, schmale kleine Hände. Finger und Hände sind das Einzige, was Timo Karffs Körper bewegen kann, der Computer die einzige Möglichkeit, mit seiner Umgebung zu kommunizieren. Unter dem Rollstuhl blubbert die Beatmungsmaschine, der rote Pulli verdeckt dicke Schläuche. Aufgrund einer angeborenen Stoffwechselstörung in den Muskeln kann der 26Jährige weder laufen noch sprechen, nicht schlucken und auch nicht selbstständig atmen. Per Sonde muss ihm pürierte Nahrung in den Magen gepumpt und Schleim aus den Bronchien abgesaugt werden. Er braucht Intensivpflege rund um die Uhr, sein Leben lang. Timo ist allerdings auch dies: hochbegabt. In Augsburg studiert er Jura und will sich später beruflich im Verbraucherschutz engagieren. „Ich bin zufrieden mit meinem Leben“, teilt er über seinen Sprachcomputer mit und ergänzt: „Behindert zu sein, ist für mich normal.“
Dass Timo so selbstbewusst und zufrieden leben kann, daran hat Pflegemutter Ulla Führing wesentlichen Anteil. Vor 23 Jahren hat sie sich entschlossen, das schwerstbehinderte Kind zu sich zu nehmen, denn die leiblichen Eltern sahen sich von der Aufgabe überfordert. Schwerste Erstickungsanfälle ihres Sohnes stellten sie vor die Frage: „Wäre es nicht besser für ihn, die Geräte abzuschalten?“Die ersten dreieinhalb Jahre seines Lebens lag Timo im Krankenhaus, an eine Besserung war nicht zu denken. Ulla Führing, damals 54, gelernte Pädagogin und Mutter einer erwachsenen Tochter, lernt „den kleinen Kerl“kennen und ganz schnell lieben. Nach gründlicher Überlegung entscheidet sie sich für ein Leben mit Timo.
Im historischen Glasmacherdorf Schmidsfelden bei Leutkirch richtet sie ihr Haus behindertengerecht ein, organisiert einen Betreuerstab zur 24-Stunden-Pflege, schafft die (über-)lebenswichtigen Geräte an und merkt bald: „Timo erobert sich die Welt im Kopf.“Zahlen, Daten, Fakten: Was er einmal gelesen oder gehört hat, speichert er in seinem Gehirn ab. Für immer. Mit neun Jahren kommt er ins Leutkircher Gymnasium, beim Abitur in Isny steht ein Notenschnitt von 1,4 im Zeugnis. Die Prüfung fordert Schule und Schüler in bis dahin unbekanntem Maße, der Aufwand an Technik und Personal ist groß – genauso wie die Freude über den Erfolg. Eine „Bereicherung“sei der schwerbehinderte Abiturient gewesen, heißt es bei der Schulleitung. „Jede Behinderung hat ihre Begabung“, sagt Ulla Führing. Sein Berufsziel ist Timo schon längst klar: „Volljurist“will er werden. Selbstzweifel? Aber nein!
Der Körper versagt seinen Dienst
Doch der hellwache Verstand hat einen unberechenbaren Gegner: Der Körper mit all seinen Einschränkungen versagt immer wieder seinen Dienst. Besonders schlimm kommt es im Frühjahr 2016: Auf eine extrem komplizierte Operation an der Speiseröhre folgt eine lebensbedrohliche Lungenentzündung. Weder Beatmungsmaschine noch Hand-Beatmung mit Beuteln noch das verabreichte Morphium können helfen. „Die Lungen blockierten, konnten die Luft nicht mehr aufnehmen“, erinnert sich Ulla Führing an Tage voller Spasmen, Atemnot und Erstickungsanfälle. Überall stecken Schläuche und Kabel, Drainagen drücken Timos schwachen Körper. Als er auf der Intensivstation schließlich versucht, sich den Arterienkatheter herauszureißen, wird der Pflegemutter klar: „Timo möchte so nicht leben. Er will sterben.“
Ihre Gedanken beginnen zu kreisen. „Was mache ich hier eigentlich?“, fragt sie sich. „Ich selbst möchte auf gar keinen Fall so am Leben gehalten werden. Gleichzeitig betreue ich seit 20 Jahren jemanden, der auf die allerunnatürlichste Weise sein Leben fristet.“Sie kann Timos Todeswunsch verstehen, will ihn nicht weiter leiden sehen, und doch: Verlieren möchte sie ihn nicht. Ein Dilemma, aus dem sie erst herausfindet, als es Timo nach Wochen voller Bangen wieder besser geht. „Er ist mit der Behinderung aufgewachsen“, macht sie sich Mut. „Er kommt damit klar.“Und als er endlich wieder beginnt, „auf seinem Computer herumzuhacken“, weiß sie: „Er ist zuversichtlich, er hat Pläne.“
Dass auf Wunden oft Wunder folgen, wie Ulla Führing sagt, erfährt sie kurz nach Timos Entlassung aus dem Krankenhaus. Schmidsfelden ist zu abgelegen für akute Notfälle, und Timo will sowieso lieber in die Stadt. Und tatsächlich, ist die Pflegemutter überrascht, finden „Rentnerin und Schwerstbehinderter“innerhalb kürzester Zeit mitten in Memmingen eine geräumige Wohnung zur Miete. Aufzug, schnelles Internet, kurze Wege, Bahnhofsnähe: „Wir sind glücklich hier“, sagen die beiden.
Im Kirchenvorstand
Doch es gibt noch mehr, was sie glücklich macht: Die Versöhnungskirche, die sie bald zum regelmäßigen Taizé-Lieder-Singen besuchen, wird zu einem Stück Heimat und hält eine neue Herausforderung für Timo bereit: Seit Dezember 2018 gehört er dem Kirchenvorstand der Gemeinde an, gewählt als jüngstes Mitglied, als einziges mit schwerster Behinderung. Und, seinem besonderen Interesse entsprechend, als Umweltbeauftragter. Einmal im Monat trifft sich das Gremium, berät und entscheidet über die Angelegenheiten der Kirchengemeinde. Der junge Mann im Rollstuhl ist immer mit dabei. Ja, ein bisschen stolz auf die gelebte Inklusion sei man dort schon, teilt sein Sprachcomputer mit.
Sieben bis acht Betreuer teilen sich derzeit den Dienst bei Timo, wechseln sich Tag und Nacht in der Pflege ab. Dazu gibt es Springer für Notfälle – nichts darf dem Zufall überlassen bleiben. Seit seinem 18. Geburtstag verfügt er, wie vom Gesetz geregelt, über ein persönliches Budget. Damit, erklärt Ulla, kann er sozusagen als Chef seinen „Betrieb“führen, die Mitarbeiter sind seine Angestellten. Auch sie selbst, wie sie lachend sagt. Mittels Betriebskrankenkasse, Pflegekasse und Eingliederungshilfe kann er Arbeitsverträge, Sozial- und Krankenversicherungen abschließen und die Betreuer angemessen bezahlen.
Büffeln für den Studienabschluss
Und das Jura-Studium? Das will er unbedingt durchziehen, auch wenn er wegen der langen Krankheit nun einiges aufholen muss. Mit zwei Betreuern fuhr Timo in den ersten Semestern regelmäßig nach Augsburg, zu Vorlesungen und Fallbesprechungen. Mittlerweile ist er nur noch zu den Klausuren dort. Die schreibt er auf einem Laptop, „natürlich ohne Hilfsmittel“, den die Uni stellt. In einem Extra-Raum mit Extra-Aufsicht. Baulich „super behindertengerecht“nennt er die Uni Augsburg, es gibt Rampen und Aufzug. Dennoch bedeutet das Studium einen gewaltigen logistischen Aufwand für sein Team – und eine echte Herausforderung für die Dozenten. Immerhin: Bis zu 17 Punkte schrieb er anfangs in den Klausuren, ein Ergebnis, wie es Juristen nicht allzu oft vergönnt ist. Auch wenn’s mittlerweile viel nachzuarbeiten gilt und schon mal kleinere Brötchen gebacken werden: Den Großen BGB-Schein im Dezember will Timo auf jeden Fall schaffen. „Ich hab da keine Panik“, lässt er den Computer sagen und büffelt schon mal fleißig Familien- und Erbrecht.
Die Zukunft – Timo sieht ihr voller Zuversicht entgegen. „Wenn wir sie nicht durch den Klimawandel vergeigen, kann sie kommen“, schreibt er in seinen Laptop. „Er mag sein Leben, so wie es jetzt ist“, fügt Ulla Führing hinzu. „Durch die Krankheit 2016 wurde der ResetKnopf gedrückt. Und ich muss mich seitdem nicht mehr dafür schämen, ihn in ein Leben zu begleiten, das ich so nie führen wollte. Es ist alles gut, so, wie es ist.“