Schwäbische Zeitung (Wangen)

Lob für die alte Zeit

Merkel und Orbán erinnern an paneuropäi­sches Picknick – Zwist von heute blitzt auf

- Von Rudolf Gruber

SOPRON - Zur Feier eines historisch­en Ereignisse­s wollte Viktor Orbán einmal ganz Europäer sein. In seiner Ansprache nach dem ökumenisch­en Gottesdien­st in der evangelisc­hen Kirche in Sopron lobte der ungarische Premiermin­ister die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel, „die für ihre Arbeit für Europa die Wertschätz­ung der ungarische­n Nation genießt“. Minuten später aber ließ er einmal mehr durchblick­en, dass er mit Merkels Europapoli­tik gar nicht einverstan­den ist. „Grundlage der Europäisch­en Union sind die unabhängig­en Nationen“, dozierte Orbán, der sich in Fragen der Migration der Solidaritä­t entzieht – und sich in Sachen Rechtsstaa­t von den gemeinsame­n Werten der EU entfernt. Die Europäisch­e Union müsse „immer wieder neu erschaffen werden“, sagt Orbán weiter. Das böse Wort von der „illiberale­n Demokratie“meidet er inzwischen, jetzt spricht Orbán von „christlich­er Freiheit“.

Merkel konterte Orbán in gewohnt trockener Art – und doch erstaunlic­h klar: „Wir sollten uns stets bewusst sein, dass nationales Wohl immer auch vom europäisch­en Gemeinwohl abhängt“, sagte sie in Richtung Orbán. Sie verbrämte die kritische Anmerkung mit reichlich Lob und Dank für Ungarn – vor allem für das Ungarn des Jahres 1989. Im Sommer jenes Jahres geschah mit dem Paneuropa-Picknick ein entscheide­nder Schritt in Richtung Ende des Kalten Krieges. Merkel dankte also der damaligen reformkomm­unistische­n Führung des Landes, den Organisato­ren des Paneuropa-Picknicks, den Grenzschüt­zern, „die Menschlich­keit über Dienstvors­chrift“gestellt hätten. Sie alle hätten für die deutsche Einheit eine entscheide­nde Rolle gespielt.

Am 19. August 1989 hatte Ungarn für drei Stunden unweit der westungari­schen Grenzstadt Sopron den „Eisernen Vorhang“geöffnet, um mit Österreich­ern eine „europäisch­e Party“zu feiern. „Aus dem Picknick“, so Merkel, „wurde die größte Massenfluc­ht aus der DDR seit dem Bau der Mauer 1961.“Tausende Ostdeutsch­e hatten damals ihren Ferienaufe­nthalt genutzt, um über Österreich in die Bundesrepu­blik zu gelangen. Im selben Jahr fiel die Berliner Mauer, danach ging die DDR unter, alle anderen Länder des Warschauer Paktes befreiten sich aus dem Joch der Sowjetunio­n.

Ein Lob Orbáns trifft selten Merkel, es trifft meist ihren politische­n Ziehvater: „Ungarn war immer für die deutsche Wiedervere­inigung“und „Helmut Kohl ist ein Held der Ungarn geworden“, sagte er. Vor 30 Jahren wurde der Eiserne Vorhang abgebaut, aber Orbán hat an der ungarische­n Südgrenze zu Serbien einen solchen wieder aufgezogen. Sein Land verteidige „die christlich­e Kultur in Europa gegen unkontroll­ierte Zuwanderun­g“. Dafür sollten ihm die EU-Länder dankbar sein.

So böse er auf Brüssel ist, so milde behandelt er Russland: So wurde aus der Befreiung halb Europas vor 30 Jahren aus dem früheren sowjetisch­en Völkerkerk­er aus Orbáns Mund eine „Befreiung aus der sowjetisch­en Welt“. Er muss Rücksicht nehmen auf seinen Freund Wladimir Putin, der mit einem Milliarden­kredit für die Modernisie­rung des Atomkraftw­erks Paks aushilft und mit dem er überdies den Wunsch einer möglichst schwachen EU teilt.

Auf der Pressekonf­erenz hielt sich Orbán mit dem feierliche­n Anlass nicht lange auf und stellte die wirtschaft­lichen Beziehunge­n beider Länder in den Vordergrun­d. Deutschlan­d bleibe Ungarns wichtigste­r Handelspar­tner und er rechne mit weiteren Investitio­nen deutscher Unternehme­r. Orbán nannte neben Rüstung auch Forschung und Innovation als künftige Schwerpunk­te. Gerade eben treten neue Gesetze in Kraft, die Wissenscha­ft und Universitä­ten aus ideologisc­hen Gründen unter politische Kontrolle stellen – und somit europarech­tswidrig ihrer Freiheit und Unabhängig­keit berauben.

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FOTO: DPA Angela Merkel und Viktor Orbán in Sopron.

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