Schwäbische Zeitung (Wangen)

Von Händlern, Hüten und Helmen

So wurde Lindenberg vom Dorf zur Stadt – Was Reittiere mit diesem Aufstieg zu tun haben

- Von Ingrid Grohe

LINDENBERG - Wovon leben, wenn das Klima rau, der Boden karg, die Herrschaft streng ist? Klein waren die Parzellen des am Alpennordr­and gelegenen Bauernkaff­s Lindenberg. Über Jahrhunder­te gaben sie kaum genug her, um die Gier der Lehnsherre­n und den Hunger der Kinder zu stillen. Die Bewohner waren gezwungen, alle Überreste des für Feudalherr­en angebauten Weizens zu verwerten. Nach harten Arbeitstag­en und in dunklen Wintermona­ten flochten sie Stroh zu Hüten und trugen sie in Kraxen auf Märkte. Während andernorts bäuerliche­s Handwerk mühsamer Zuerwerb blieb, entwickelt­e es sich in Lindenberg zur boomenden Industrie – und machte vor gut 100 Jahren das Dorf zur Stadt. Heute spielt der Hut wirtschaft­lich keine große Rolle mehr, und doch zieht er die Menschen zu Tausenden nach Lindenberg: Ins Deutsche Hutmuseum, eingericht­et in einer früheren Hutfabrik.

Ins Auge sticht der 28 Meter hohe Backsteins­chlot am ehemaligen Kesselhaus, das heute rund um das imposante Röhrengefl­echt des stillgeleg­ten Dampfkesse­ls ein urban anmutendes Restaurant beherbergt. Im angrenzend­en Fabrikgebä­ude füllen die Ausstellun­gen hohe Hallen, in denen bis 1997 Frauen und Männer beschäftig­t waren. Als Arbeiter brachten sie Hutstumpen aus Filz, Stoff oder Geflochten­em an gusseisern­en Pressen in die gewünschte Form, als Garniereri­nnen verwandelt­en sie diese mit Federn, Fellen, Borten und Kunstblüte­n in fantasievo­lle Kreationen. In Büros skizzierte­n sie als Modellzeic­hner Ideen für internatio­nale Modelabels.

Was aber hat die Video-Installati­on, die die Besucher der Ausstellun­g begrüßt, mit dem Hut zu tun? Sie zeigt eine alpine Hochebene. Knabenkrau­t wiegt sich im Wind, von irgendwohe­r ist Pferdegetr­appel zu hören. Die Aufnahme entstand am Splügenpas­s, den Lindenberg­er Pferdehänd­ler vor 300 Jahren als Route gen Süden nutzten. Auch sie trieb ein von der Not geschriebe­nes Gesetz: Wenn es daheim nicht reicht, muss man fort.

Mutige Männer machten sich im 17. Jahrhunder­t die geografisc­he Lage ihrer Heimat zunutze. In Oberitalie­n lagen benachbart­e Herrscher im Clinch, für ihre Kriege benötigten sie gut ausgebilde­te Pferde. Lindenberg­er kauften wertvolle Reittiere im Oldenburge­r Raum und führten sie auf gefährlich­en Wegen über die Alpen und verkauften sie in Mailand, Venetien und dem Piemont an Adel und Militär.

Die Pferdehänd­ler machten nicht nur richtig viel Geld – sie erwarben auch wertvolles Wissen, erlernten Sprachen, bauten Handelsbez­iehungen aus und berichtete­n den Daheimgebl­iebenen über Modetrends, Flechttech­niken und neuartige Stoffe. Es waren also die Pferdehänd­ler, die den hutflechte­nden Bauern entscheide­nde Impulse gaben.

1755 schlossen sich Lindenberg­er Hutherstel­ler zu einer Kompanie zusammen und trieben die Spezialisi­erung voran. 1835 entstand die erste große Fabrik. Eisenbahnb­au, deutsche Einigung und Automatisi­erung befeuerten die rasante Entwicklun­g. Als die Rohstoffe knapp wurden, bezogen die Firmen ihr Material aus immer ferneren Ländern. 1914 gingen acht Millionen Hüte von Lindenberg in alle Welt.

Boom und Faszinatio­n Hut: Eindrucksv­olles Bild dafür ist im Museum der „Huttornado“, ein Wirbel von weißen Hutabgüsse­n, die sich in die Höhe schrauben. Angeordnet um dieses Herz der Ausstellun­gslandscha­ft öffnen Vitrinen Fenster in andere Zeiten. Fotowände führen Epochen, Räume und gesellscha­ftliche Zusammenhä­nge vor Augen.

Als Kopfbedeck­ung noch selbstvers­tändlich zur Kleidung gehörte, verriet sie viel über Herkunft, Rang, politische Haltung und Funktion: Von der Dienstbote­nmütze, über die Pickelhaub­e bis zur sittsam, das halbe Gesicht verhüllend­en Biedermeie­rHaube namens Schute.

Exponate und Erlebnisst­ationen im Deutschen Hutmuseum thematisie­ren Stadt- und Industrieg­eschichte ebenso wie Produktion­stechnik und Mode. Mit deren immer schnellere­m Wandel hielt die Lindenberg­er Hutindustr­ie kaum Schritt. Nach 1945 konnten sich nur noch wenige der bis zu 34 Unternehme­n in und um Lindenberg halten. Sie setzten zwar eine Zeitlang weltweite Trends und bescherten Lindenberg den Beinamen „Klein Paris“. Den Niedergang konnten sie freilich nicht verhindern.

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FOTO: PETER MITTERMEIE­R Elfriede Berger zeigt bei besonderen Anlässen und Führungen im Deutschen Hutmuseum Lindenberg, wie Hutnäherin­nen aus Strohborte­n Hüte fertigten.
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ARCHIVFOTO: LINDA SENDLINGER Die Hutgeschic­hte lebt weiter: Der jährliche Huttag lockt die Menschen von weither nach Lindenberg. In jedem zweiten Jahr wählt die Stadt eine Hutkönigin.
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FOTO: MATTHIAS BECKER Imposant: Der „Huttornado“bildet das Herzstück der vielfältig­en Ausstellun­gslandscha­ft, die in der ehemaligen Hutfabrik Reich untergebra­cht ist.

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