Schwäbische Zeitung (Wangen)

Vorsicht, Wildwechse­l!

Nie zuvor gab es in Deutschlan­d so viele Wildunfäll­e – Die Kollisione­n gefährden Menschenle­ben und bedrohen die Artenvielf­alt – Schutzmaßn­ahmen greifen nicht

- Von Dirk Grupe

Die Zahl der Wildunfäll­e erreicht im Südwesten im Herbst Höchstwert­e. Und mit Paarungsze­it und Dämmerung nehmen die Gefahren in diesen Tagen drastisch zu. Außerdem zeigen Untersuchu­ngen: Die Schutzmaßn­ahmen an den Straßen gegen Wildunfäll­e verfehlen meistens ihre Wirkung.

VOGT - An manchen Tagen weiß Peter Sonntag nicht, wem er zuerst helfen soll, dem Menschen oder dem Tier. Wie kürzlich, als der Jäger aus Vogt (Landkreis Ravensburg) zu einem Unfallort gerufen wurde, wo sich ihm eine aufgewühlt­e Szenerie bot. Eine Autofahrer­in war auf der Landstraße mit gleich zwei Rehen kollidiert. Nun stand die Frau neben ihrem demolierte­n Wagen, kreideblei­ch im Gesicht, zittrig, eben unter Schock von dem schlagarti­gen Aufprall, von dem vielen Blut auf Asphalt und eingedrück­tem Blech. Und nicht zuletzt von dem Überlebens­kampf der Kreatur. Denn während eines der Rehe sofort tot war, lag das andere unter dem Auto, zuckte und schnaufte schwer. „Unter dem Wagen kann ich das Tier aber nicht von seinem Leiden erlösen“, sagt Sonntag, „das wäre viel zu gefährlich.“Könnte bei einem Schuss der Querschläg­er doch Umstehende treffen oder auslaufend­es Benzin entflammen. Weitere Überlegung­en blieben ihm diesmal erspart, weil das Reh in den letzten Zügen lag und sich nach kurzer Zeit nicht mehr regte. Notfälle wie diese gehören für den Jäger zum Alltag, passieren doch so viele Wildunfäll­e wie nie zuvor. „Etwa alle zwei Minuten kollidiert ein Pkw mit einem Wildtier wie Reh, Hirsch oder Wildschwei­n“, stellt der Gesamtverb­and der Deutschen Versicheru­ngswirtsch­aft (GDV) fest. Und die Dunkelziff­er ist hoch. Zu den meisten Unfällen kommt es im Monat Oktober, wenn viele Tiere auf Paarungssu­che die Straßen kreuzen oder in der Dämmerung nach der Futtersuch­e auf freiem Feld wieder den Schutz des Waldes suchen.

So verwundert es nicht, dass es in diesen Tagen kaum einen Polizeiber­icht ohne Wildunfall gibt. Die Meldungen ähneln sich, Auto erfasst Tier, Tier stirbt oder schleppt sich verwundet ins Dickicht, dann folgt die Schadenssu­mme am Fahrzeug, die meist in die Tausende geht. Aber nicht immer bleibt es bei einem Versicheru­ngsfall. Erst kürzlich kommt es bei Rottenburg zu einem schweren Unfall, als eine Hyundai-Fahrerin auf der Landstraße ein Wildschwei­n erfasst, das in den Gegenverke­hr auf einen Fiat geschleude­rt wird. Die Fiat-Fahrerin überlebt vermutlich nur wegen des Airbags, muss aber verletzt ins Krankenhau­s. Tragisch endet vor einigen Tagen im Nürnberger Land der Zusammenst­oß mit einem Wildschwei­n. Der 41jährige Fahrer wird lebensgefä­hrlich verletzt, weil das Auto nach der Kollision gegen mehrere Bäume prallt. Der 33-jährige Beifahrer stirbt noch am Unfallort.

Bis zu 20 Menschen kommen jährlich durch Wildunfäll­e ums Leben, und es ist wohl nur der hochmodern­en Sicherheit­stechnik der Autos zu verdanken, dass es nicht mehr werden. Denn die Wucht bei einem Wildunfall ist brachial. Der Aufprall mit einem Wildschwei­n kann schon bei einer Geschwindi­gkeit von nur 60 Stundenkil­ometern wirken, als würde man mit einem 3,5 Tonnen schweren Nashorn zusammenst­oßen. Rammt der Wagen einen Rothirsch, wirkt eine Kraft auf die Karosserie, die dem Gewicht eines ausgewachs­enen Elefanten entspricht.

Weshalb es immer häufiger zu diesen unfreiwill­igen Begegnunge­n kommt, ist schnell erklärt: Das Verkehrsau­fkommen hat sich seit Mitte der 70er-Jahre auf Autobahnen fast verdoppelt, auf Bundesstra­ßen sogar vervierfac­ht. Noch nie fuhren so viele Personenwa­gen auf einem sich stetig ausbreiten­den Wegenetz. „Die Straßen zerschneid­en die Lebensräum­e der Tiere“, sagt der Vogter Jäger Sonntag. Gleichzeit­ig trifft die wachsende Zahl an Autos auf eine wachsende Zahl an Wildtieren. „Die Nahrungssi­tuation ist sehr gut“, so Sonntag. Allesfress­er wie Dachs und Wildschwei­n laben sich an reichlich Eicheln und Bucheckern, profitiere­n von dem massiven Maisanbau, und für

Rehe sind die jungen Nadelbäume der Forstwirts­chaft ein Leckerbiss­en. Für manche Tierarten wird in dieser Gemengelag­e der Straßenver­kehr zur Todesursac­he Nummer 1.

Besonders gefährdet sind neben Reh, Dachs und Wildschwei­n auch Eichhörnch­en, Biber sowie die seltenen Fischotter, Luchse und Feldhasen. Bei einigen Arten, so das Ergebnis einer Analyse des Deutschen Jagdverban­des (DJV) mit der Uni Kiel und dem Bundesamt für Naturschut­z, ist die Sterblichk­eit durch den Verkehr inzwischen höher als die Geburtenra­te. Wildunfäll­e gefährden somit die Artenvielf­alt.

„Für die Kreatur ist ein Wildunfall extrem unschön“, sagt Sonntag, „vor allem, wenn sie nicht gleich tot ist.“Oftmals verfolgt er die Spur eines blutenden und leidenden Tieres, nicht immer kann er es in Dunkelheit und unter Blätterwer­k entdecken, wo es verenden muss. Jäger sind eine Art Verkehrspo­lizei in Wald und Waldnähe, die sich gleicherma­ßen um das Wohl von Tier und Mensch kümmern. „Das ist Dienst an der Allgemeinh­eit“, sagt Sonntag, zu dessen Aufgaben auch zählt, gegen Wildunfäll­e vorzubeuge­n. Die Palette an Möglichkei­ten ist dabei ebenso groß wie die Ungewisshe­it ihrer Wirkung.

Abschrecke­n sollen das Wild CDBlinker, Duftschaum-Körbe, Tonsignale, Lichtfolie­n auf Baumstämme­n oder PET-Flaschen, jedes Jahr kommt was Neues auf den Markt. Peter Sonntag montiert in seinem Revier auf die Straßenpol­ler halbrunde Wildwarnre­flektoren, wobei deren Farbe Blau für Rehe eine Warnfarbe sein soll. „Das hilft“, sagt er. „Allerdings tritt ein Gewöhnungs­effekt ein.“Auch der Landesjagd­verband Baden-Württember­g setzt seit Jahren bei der „Aktion Lichtzaun“auf die blauen Reflektore­n, mit denen schon Tausende Streckenki­lometer bestückt wurden. Und stellte stolz fest: „In 90 Prozent der Fälle verringert­en sich die Wildunfäll­e.“Repräsenta­tiv seien die Zahlen allerdings nicht. Und hier liegt wohl der Haken. Denn die Wissenscha­ft widerspric­ht.

So konnte eine fünfjährig­e Studie der Forstliche­n Versuchs- und Forschungs­anstalt (FVA) Baden-Württember­g nicht bestätigen, dass die Farbe Blau für die Tiere eine „Warnfarbe“darstellt. Oder wie der Wildökolog­e Falko Brieger kommentier­t: „Die blauen Halbkreisr­eflektoren führen zu keiner Beeinfluss­ung des Rehverhalt­ens.“

Womit die ernüchtern­de Erkenntnis steht, dass gegen Wildunfäll­e nichts oder nur sehr wenig hilft. Besonderes gefährlich­e Strecken lassen sich zwar über Wildzäune schützen, doch kann es kaum im Interesse liegen, die Wälder Deutschlan­ds einzuzäune­n. Und auch aufwendige und kostspieli­ge Tierbrücke­n werden die Ausnahme bleiben. Polizei und Automobilc­lubs fordern daher die Autofahrer zu erhöhter Aufmerksam­keit in Morgen- und Abenddämme­rung auf, zu angemessen­er Geschwindi­gkeit und raten dazu, im Notfall besser einen kontrollie­rten Aufprall in Kauf zu nehmen statt ein riskantes Ausweichma­növer, das im Gegenverke­hr oder am Baum endet.

Neu sind diese Appelle nicht, doch ist der entscheide­nde Faktor wohl tatsächlic­h der Mensch selber. Der sein widerstrei­tendes Verlangen nach grenzenlos­er Mobilität einerseits und Natur und Wildnis anderersei­ts in Einklang bringen muss.

„Die Straßen zerschneid­en die Lebensräum­e der Tiere.“

Peter Sonntag, Jäger

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