Vorsicht, Wildwechsel!
Nie zuvor gab es in Deutschland so viele Wildunfälle – Die Kollisionen gefährden Menschenleben und bedrohen die Artenvielfalt – Schutzmaßnahmen greifen nicht
Die Zahl der Wildunfälle erreicht im Südwesten im Herbst Höchstwerte. Und mit Paarungszeit und Dämmerung nehmen die Gefahren in diesen Tagen drastisch zu. Außerdem zeigen Untersuchungen: Die Schutzmaßnahmen an den Straßen gegen Wildunfälle verfehlen meistens ihre Wirkung.
VOGT - An manchen Tagen weiß Peter Sonntag nicht, wem er zuerst helfen soll, dem Menschen oder dem Tier. Wie kürzlich, als der Jäger aus Vogt (Landkreis Ravensburg) zu einem Unfallort gerufen wurde, wo sich ihm eine aufgewühlte Szenerie bot. Eine Autofahrerin war auf der Landstraße mit gleich zwei Rehen kollidiert. Nun stand die Frau neben ihrem demolierten Wagen, kreidebleich im Gesicht, zittrig, eben unter Schock von dem schlagartigen Aufprall, von dem vielen Blut auf Asphalt und eingedrücktem Blech. Und nicht zuletzt von dem Überlebenskampf der Kreatur. Denn während eines der Rehe sofort tot war, lag das andere unter dem Auto, zuckte und schnaufte schwer. „Unter dem Wagen kann ich das Tier aber nicht von seinem Leiden erlösen“, sagt Sonntag, „das wäre viel zu gefährlich.“Könnte bei einem Schuss der Querschläger doch Umstehende treffen oder auslaufendes Benzin entflammen. Weitere Überlegungen blieben ihm diesmal erspart, weil das Reh in den letzten Zügen lag und sich nach kurzer Zeit nicht mehr regte. Notfälle wie diese gehören für den Jäger zum Alltag, passieren doch so viele Wildunfälle wie nie zuvor. „Etwa alle zwei Minuten kollidiert ein Pkw mit einem Wildtier wie Reh, Hirsch oder Wildschwein“, stellt der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) fest. Und die Dunkelziffer ist hoch. Zu den meisten Unfällen kommt es im Monat Oktober, wenn viele Tiere auf Paarungssuche die Straßen kreuzen oder in der Dämmerung nach der Futtersuche auf freiem Feld wieder den Schutz des Waldes suchen.
So verwundert es nicht, dass es in diesen Tagen kaum einen Polizeibericht ohne Wildunfall gibt. Die Meldungen ähneln sich, Auto erfasst Tier, Tier stirbt oder schleppt sich verwundet ins Dickicht, dann folgt die Schadenssumme am Fahrzeug, die meist in die Tausende geht. Aber nicht immer bleibt es bei einem Versicherungsfall. Erst kürzlich kommt es bei Rottenburg zu einem schweren Unfall, als eine Hyundai-Fahrerin auf der Landstraße ein Wildschwein erfasst, das in den Gegenverkehr auf einen Fiat geschleudert wird. Die Fiat-Fahrerin überlebt vermutlich nur wegen des Airbags, muss aber verletzt ins Krankenhaus. Tragisch endet vor einigen Tagen im Nürnberger Land der Zusammenstoß mit einem Wildschwein. Der 41jährige Fahrer wird lebensgefährlich verletzt, weil das Auto nach der Kollision gegen mehrere Bäume prallt. Der 33-jährige Beifahrer stirbt noch am Unfallort.
Bis zu 20 Menschen kommen jährlich durch Wildunfälle ums Leben, und es ist wohl nur der hochmodernen Sicherheitstechnik der Autos zu verdanken, dass es nicht mehr werden. Denn die Wucht bei einem Wildunfall ist brachial. Der Aufprall mit einem Wildschwein kann schon bei einer Geschwindigkeit von nur 60 Stundenkilometern wirken, als würde man mit einem 3,5 Tonnen schweren Nashorn zusammenstoßen. Rammt der Wagen einen Rothirsch, wirkt eine Kraft auf die Karosserie, die dem Gewicht eines ausgewachsenen Elefanten entspricht.
Weshalb es immer häufiger zu diesen unfreiwilligen Begegnungen kommt, ist schnell erklärt: Das Verkehrsaufkommen hat sich seit Mitte der 70er-Jahre auf Autobahnen fast verdoppelt, auf Bundesstraßen sogar vervierfacht. Noch nie fuhren so viele Personenwagen auf einem sich stetig ausbreitenden Wegenetz. „Die Straßen zerschneiden die Lebensräume der Tiere“, sagt der Vogter Jäger Sonntag. Gleichzeitig trifft die wachsende Zahl an Autos auf eine wachsende Zahl an Wildtieren. „Die Nahrungssituation ist sehr gut“, so Sonntag. Allesfresser wie Dachs und Wildschwein laben sich an reichlich Eicheln und Bucheckern, profitieren von dem massiven Maisanbau, und für
Rehe sind die jungen Nadelbäume der Forstwirtschaft ein Leckerbissen. Für manche Tierarten wird in dieser Gemengelage der Straßenverkehr zur Todesursache Nummer 1.
Besonders gefährdet sind neben Reh, Dachs und Wildschwein auch Eichhörnchen, Biber sowie die seltenen Fischotter, Luchse und Feldhasen. Bei einigen Arten, so das Ergebnis einer Analyse des Deutschen Jagdverbandes (DJV) mit der Uni Kiel und dem Bundesamt für Naturschutz, ist die Sterblichkeit durch den Verkehr inzwischen höher als die Geburtenrate. Wildunfälle gefährden somit die Artenvielfalt.
„Für die Kreatur ist ein Wildunfall extrem unschön“, sagt Sonntag, „vor allem, wenn sie nicht gleich tot ist.“Oftmals verfolgt er die Spur eines blutenden und leidenden Tieres, nicht immer kann er es in Dunkelheit und unter Blätterwerk entdecken, wo es verenden muss. Jäger sind eine Art Verkehrspolizei in Wald und Waldnähe, die sich gleichermaßen um das Wohl von Tier und Mensch kümmern. „Das ist Dienst an der Allgemeinheit“, sagt Sonntag, zu dessen Aufgaben auch zählt, gegen Wildunfälle vorzubeugen. Die Palette an Möglichkeiten ist dabei ebenso groß wie die Ungewissheit ihrer Wirkung.
Abschrecken sollen das Wild CDBlinker, Duftschaum-Körbe, Tonsignale, Lichtfolien auf Baumstämmen oder PET-Flaschen, jedes Jahr kommt was Neues auf den Markt. Peter Sonntag montiert in seinem Revier auf die Straßenpoller halbrunde Wildwarnreflektoren, wobei deren Farbe Blau für Rehe eine Warnfarbe sein soll. „Das hilft“, sagt er. „Allerdings tritt ein Gewöhnungseffekt ein.“Auch der Landesjagdverband Baden-Württemberg setzt seit Jahren bei der „Aktion Lichtzaun“auf die blauen Reflektoren, mit denen schon Tausende Streckenkilometer bestückt wurden. Und stellte stolz fest: „In 90 Prozent der Fälle verringerten sich die Wildunfälle.“Repräsentativ seien die Zahlen allerdings nicht. Und hier liegt wohl der Haken. Denn die Wissenschaft widerspricht.
So konnte eine fünfjährige Studie der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA) Baden-Württemberg nicht bestätigen, dass die Farbe Blau für die Tiere eine „Warnfarbe“darstellt. Oder wie der Wildökologe Falko Brieger kommentiert: „Die blauen Halbkreisreflektoren führen zu keiner Beeinflussung des Rehverhaltens.“
Womit die ernüchternde Erkenntnis steht, dass gegen Wildunfälle nichts oder nur sehr wenig hilft. Besonderes gefährliche Strecken lassen sich zwar über Wildzäune schützen, doch kann es kaum im Interesse liegen, die Wälder Deutschlands einzuzäunen. Und auch aufwendige und kostspielige Tierbrücken werden die Ausnahme bleiben. Polizei und Automobilclubs fordern daher die Autofahrer zu erhöhter Aufmerksamkeit in Morgen- und Abenddämmerung auf, zu angemessener Geschwindigkeit und raten dazu, im Notfall besser einen kontrollierten Aufprall in Kauf zu nehmen statt ein riskantes Ausweichmanöver, das im Gegenverkehr oder am Baum endet.
Neu sind diese Appelle nicht, doch ist der entscheidende Faktor wohl tatsächlich der Mensch selber. Der sein widerstreitendes Verlangen nach grenzenloser Mobilität einerseits und Natur und Wildnis andererseits in Einklang bringen muss.
„Die Straßen zerschneiden die Lebensräume der Tiere.“
Peter Sonntag, Jäger