Erst Brexit oder erst Neuwahlen?
Premierminister Johnson verhandelt mit der Opposition – EU will Verlängerung der Austrittsfrist zustimmen
LONDON - Erst auf den Weg gebracht, dann verzögert – nach den widersprüchlichen Abstimmungen im Unterhaus belauerten sich die britischen Parteien am Mittwoch, ohne konkrete Auswege zu benennen. Im Unterhaus wies Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn auf die Schwächen des „furchtbaren“Austrittsvertrages hin. Der konservative Premierminister Boris Johnson bezichtigte sein Gegenüber, dies sei ohnehin nur an einer zweiten Volksabstimmung interessiert. Hinter verschlossenen Türen verhandelten die beiden Spitzenpolitiker über einen neuen Zeitplan für den EUAustritt und den möglichen Termin für die geplante Neuwahl.
Das Parlament hatte am Dienstagabend mit 329 zu 299 Stimmen erstmals seine Zustimmung zum Verhandlungspaket aus Austrittsvertrag und politischer Erklärung signalisiert. Dabei gaben 19 Labour-Abgeordnete den Ausschlag, deren Wahlkreise
2016 mit klarer Mehrheit für den Brexit votiert hatten. Sie handelten damit zwar gegen die offizielle Labour-Fraktionslinie, in der Arbeiterpartei glauben aber viele, dem langjährigen Europaskeptiker Corbyn sei der Ungehorsam ganz recht gewesen. Er wünsche sich den EUAustritt,
wolle aber nicht dafür verantwortlich sein, heißt es aus Kreisen um den EU-freundlichen Brexitsprecher Keir Starmer.
Bei der kurz darauffolgenden Abstimmung wandte sich das Unterhaus dann gegen die Vorstellungen der Regierung. Diese hatte das Austrittsgesetz
binnen drei Tagen verabschieden und damit den geplanten Termin zum Monatsende einhalten wollen. Mit 322 zu 308 Stimmen wurde der Zeitplan abgelehnt.
Der Premierminister hielt auch am Mittwoch an der Sichtweise fest, die mittlerweile von der EU erbetene Verlängerung der Austrittsperiode habe mit ihm nichts zu tun. Dabei musste der Regierungschef am Samstag einem Gesetz vom Vormonat folgen und bei Ratspräsident Donald Tusk um mehr Zeit bis Ende Januar bitten. Dem Brüsseler Vernehmen nach dürften die 27 EU-Partner dieser Bitte entsprechen, mit der bereits zuvor benutzten Formulierung, der Austritt könne selbstverständlich auch früher erfolgen.
Die Liberaldemokraten, Grüne sowie die schottischen und walisischen Nationalparteien wünschen sich eine vorgezogene Neuwahl vor dem Austritt. Dies gäbe ihnen die Möglichkeit, den Wahlkampf auf die Brexit-Frage zu reduzieren. Hingegen haben die Torys und Labour ein
Interesse daran, zunächst eine Klärung über den Austritt herbeizuführen. Denn den Konservativen droht Gefahr durch die Brexit-Party, die auf einen kompromisslosen Bruch mit dem politischen Europa drängt. In jüngsten Umfragen liegen die Jünger des einstigen Ukip-Chefs Nigel Farage immerhin bei zehn bis 13 Prozent, was den Torys in einzelnen Wahlkreisen empfindlich schaden könnte.
Zudem verheißen die Umfragen der Oppositionspartei wenig Gutes. Bis zu 15 Prozent beträgt der Abstand auf Johnsons Partei, im direkten Vergleich der beiden Anwärter auf die Downing Street liegt der Amtsinhaber, 55, in allen Altersgruppen sowie sämtlichen Regionen des Landes vor seinem 70-jährigen Herausforderer. Dass Corbyn dennoch der vorgezogenen Neuwahl – die Legislaturperiode dauert offiziell bis Mitte 2022 – zustimmen will, sobald die Gefahr eines chaotischen Brexit („No Deal“) gebannt ist, halten viele Parteifeinde für den völlig unangebrachten Mut der Verzweiflung.