Freundschaft, die in schlimmer Zeit entstand
Bei einer Opfenbacher Bauernfamilie lebt gegen Kriegsende eine weißrussische Zwangsarbeiterin
OPFENBACH - Dies ist die Geschichte von einer Freundschaft über mehr als 70 Jahre und 1700 Kilometer hinweg. Man könnte auch von Völkerverständigung sprechen – auf unmittelbarer, menschlicher Ebene. Sie beginnt im Zweiten Weltkrieg und endet im Juli 2016, als in Minsk in Weißrussland die hoch betagte Tatjana Lichatschowa stirbt. Davor gehen weit über 100 Briefe zwischen Minsk und dem Hof der Familie Mangold im Opfenbacher Ortsteil Mäuchen hin und her. Häufig auch Päckchen: vor Weihnachten, einem Geburtstag oder einer Hochzeit. Tatjana Lichatschowa war als 15-Jährige als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt worden und lebte zwei Jahre lang bei den Mangolds.
Die junge Weißrussin heißt mit Nachnamen Ssidorowa, als es sie im Herbst 1944 ins Westallgäu verschlägt. Davor arbeitet sie als Zwangsarbeiterin bei der Firma Dornier in Friedrichshafen. Die Stadt wird von alliierten Luftstreitkräften in diesem Jahr massiv unter Beschuss genommen. Als erst das Lager für die Zwangsarbeiter und dann die Fabrik abbrennt, verlegt Dornier eine Arbeitsgruppe in eine stillgelegte Textilfabrik nach Opfenbach. „Ich und noch ein Mädchen wurden zu einem Bauern zum Wohnen gebracht“, erzählt die Weißrussin viele Jahre später einer Historikerin. „Die Hausfrau hieß Mangold und die Familie hatte vier Kinder.“Dornier bezahlt für Tatjana die Unterkunft sowie die Verpflegung während der Woche im Gasthaus „Löwen“. Für das Essen am Wochenende hilft sie der Bäuerin Maria Mangold bei der Arbeit. Die Kinder schließt Tatjana ins Herz. „Ich habe in ihnen meine Geschwister gesehen, von denen ich nichts mehr gewusst habe.“
Tatjana fühlt sich wohl bei der Bauernfamilie und hofft, dass der Krieg bald zu Ende ist. Tatsächlich benötigen die Dornierwerke Ende
März 1945 Tatjana Ssiderowa nicht mehr. Sie bleibt noch einige Monate bei den Mangolds, und bevor sie im August nach Hause aufbricht, nimmt Maria Mangold sie mit zur Schneiderin ins Dorf. „Sie hat der Tatjana einen Mantel machen lassen“, erzählt ihre Schwiegertochter Centa Mangold, die bis heute Fotos und Briefe der weißrussischen Familienfreundin aufbewahrt.
„Es war eine schlimme Zeit für Sie damals. Erst nach Lesen Ihres Briefes haben wir wieder mal begriffen, was die damals unmittelbar Betroffenen erleiden mussten.“(Centa Mangold im ersten Brief an Tatjana Lichatschowa im Juli 1997)
Als Centa Mangold ihren vor zwei Jahren verstorbenen Ehemann Benedikt kennenlernt, erzählt der immer wieder von Tatjana. „Sie hat doch versprochen, dass sie sich meldet“, sagt er über das Mädchen, das in den Vierzigerjahren auf ihn und die Geschwister aufgepasst hat. Doch die Mangolds hören nichts von Tatjana; sie befürchten, sie habe die Heimfahrt nicht überlebt. Tatsächlich aber erreicht sie ihr Dorf bei Minsk. Sie findet ein zerstörtes Haus vor. Die Mutter und die drei kleineren Geschwister leben noch, der Vater ist im Krieg gefallen.
Dass die Mangolds in Opfenbach davon und von ihrem weiteren Schicksal erfahren, ist der Historikerin Christa Tholander zu verdanken, die Ende der 1990er Jahren die Geschichte der Fremdarbeiter in Friedrichshafen aufarbeitet. Bei ihren Recherchen stößt sie auf die Westallgäuer Bauernfamilie und vermittelt den Kontakt. Schon ein Jahr später besucht die inzwischen verwitwete Tatjana Lichatschowa die Mangolds in Opfenbach. Und sie erklärt, warum sie ihr Versprechen vom Abschied aus ihrer „zweiten Heimat“nicht halten konnte: Sowjetische Behörden verpflichteten sie zum Stillschweigen, weil sie in einem deutschen Rüstungsbetrieb gearbeitet hat. Erst als Gorbatschows Perestroika
die repressiven Strukturen lockert, kann sie davon erzählen.
„Ich habe Ihren Brief erhalten und war sehr froh und zweimal froh, wenn ich erkannt habe, dass Sie alle lebendig und gesund sind und alles gut haben ( .... ) Ich bin nach Vaterland nur im September 1945 zurückgekommen. Überall traf ich Armut und Verfall. (...) Viele Jahre haben wir Hunger, Kälte, Erniedrigung gespürt. Aber wir Kinder waren am Krieg nicht schuldig und waren doch Opfer dieses Krieges.“(aus Tatjana Lichatschowas erstem Brief an die Familie Mangold)
Centa Mangold sitzt in ihrer Stube des alten Bauernhauses in Mäuchen. Sie hat über all die Jahre im Namen der Familie den regen Briefkontakt gepflegt. Auf dem Tisch vor ihr liegen Glückwunschkarten mit üppigen Blumenmotiven und Weihnachtskarten, auf denen viel goldene Farbe schimmert. In einem Ordner sind Briefe abgeheftet, teilweise von Hand geschrieben, teils mit der Maschine. „Tatjana hat in Friedrichshafen recht ordentlich Deutsch gelernt“, sagt sie. In Opfenbach konnte sie sich außerdem in ihrer Muttersprache unterhalten: Der Bauer war im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangener in Sibirien und hatte gute Erinnerungen an die Russen. „Er ist zu Fuß nach Hause geflüchtet“, erzählt seine Schwiegertochter. Auf dieser Odyssee hätten ihm russische Zivilisten immer wieder geholfen.
Hilfe von Menschen, die eigentlich zu den Feinden gehören, erfährt auch die Zwangsarbeiterin Tatjana Lichatschowa. Die Ernährung im Lager bei Friedrichshafen ist zwar schlecht – „gerade zu viel zum Sterben“, schildert Tatjana später den Mangolds. Aber ihr Meister nimmt sie an Wochenenden heim in seine Familie, wo sie zu essen bekommt und sich waschen kann. Und irgendwann sorgt er dafür, dass das schwache Mädchen eine Aufgabe in der Schreibstube bekommt. Das Leben im umzäunten und von Hunden bewachten Lager ist hart.
Misshandlungen habe sie keine erfahren, sagt Tatjana Lichatschowa der Historikerin Tholander.
„Sie hatte keinen Groll gegen die Deutschen“, erzählt Centa Mangold. Und als Tatjana 1998 ein paar Tage in Opfenbach verbringt, erinnert sie sich auch an die Wirtstöchter des „Löwen“, die seien „sehr lieb“gewesen. Und der Metzger im Dorf, bei dem Tatjana für die Fremdarbeiter von Dornier einkaufen musste, habe ihr hin und wieder eine Wurst zugesteckt.
Centa Mangold blättert im Fotoalbum. Da gibt es eine Aufnahme aus dem Jahr 1945, aufgenommen vor der Haustür des Hofs. An der Treppe stehen Tatjana, hinter ihr Sophie, der sie ein hübsches Gedicht ins Poesiealbum schrieb, neben ihr Josef, den sie „meine kleine Bruder“nannte, und daneben Gebhard. Benedikt, der spätere Ehemann von Centa Mangold, war als Bub kamerascheu. Ein Bild an gleicher Stelle, auf dem er mit Tatjana zu sehen ist, entstand erst 54 Jahre später, als die Weißrussin auf Besuch im Allgäu war. Centa Mangold, die bis zu diesem Tag Tatjana nur aus Erzählungen kannte, erinnert sich an eine eher ruhige, aber lustige Frau. „Sie hat gern g’hoschtubet – aber ich habe nicht alles verstanden.“
Die letzte Karte nach Opfenbach schreibt Tatjana Lichatschowa im Januar 2016. Sie gratuliert Benedikt Mangold zum Geburtstag. „Kaum vorstellbar, was sie als junges Mädchen erleben musste“, sagt Centa Mangold, als sie all die Erinnerungen durchstöbert. Und doch kann sie die Geschichte der Weißrussin versöhnlich erzählen: mit Respekt vor ihrer Schwiegermutter, die dem fremden Kind nicht nur Obdach, sondern auch Wärme gegeben hat, mit Achtung vor Tatjana Lichatschowa, die ohne Bitterkeit gegen die Deutschen fast 90 Jahre alt wurde. In Friedrichshafen, dem Ort, wo sie im Lager einst Hunger litt und in der Fabrik schuftete, geht für die Weißrussin 1998 ein Traum in Erfüllung: Sie sieht zum ersten Mal den Bodensee.