Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Es gibt Dinge, die sind einfach so“

Zum 100. Geburtstag zieht Anna Mast eine positive Bilanz ihres langen Lebens

- Von Vera Stiller

WANGEN - Derzeit leben rund 16 000 Menschen in Deutschlan­d, die 100 oder mehr Jahre alt sind. Ab dem 30. März wird Anna Mast dazugehöre­n. Seit 30 Jahren lebt sie in einer Wohnung des Seniorenze­ntrums St. Vinzenz, kann sich weitgehend noch selber versorgen und an Aktivitäte­n des Hauses teilnehmen.

Hundert Jahre, das klingt gerade für junge Menschen nach Ewigkeit. Wer heute 100 Jahre alt ist, wurde zu Beginn der Weimarer Republik und kurz nach Ende des Ersten Weltkriege­s geboren, die Nazizeit erlebte er als Teenager (Mädchen wurden damals „Backfische“genannt) und den Zweiten Weltkrieg als junger Erwachsene­r. Nicht zu vergessen den Wiederaufb­au, das darauf folgende „Wirtschaft­swunder“und die Wiedervere­inigung.

Anna Mast sind diese Ereignisse noch deutlich in Erinnerung. Wobei sie einzelne Daten der Weltgeschi­chte immer in Verbindung mit ihrer großen Familie bringt. Jahreszahl­en von Hochzeiten, Geburten und Sterbefäll­en, von berufliche­n Ereignisse­n wie auch die der zahlreiche­n Umzüge kann sie nach nur kurzer Überlegung­szeit ohne Lücken abrufen.S

„Meine Mutter kann sich noch besser erinnern als ich“, sagt die 60jährige Maria Rundel, eine der drei Töchter von Anna Mast. Daneben gibt es noch zwei Söhne, neun Enkel und zwölf Urenkel. Mit ihnen allen fühlt sich die alte Dame innig verbunden. Wer aber glaubt, dass sie ständig von allen „betüddelt“wird, irrt. Anna Mast ist stolz darauf, sich noch im hohen Alter selbst versorgen zu können. Einzige Ausnahme: Am Morgen kommt die Sozialstat­ion in die Wohnung, hilft beim Anziehen und richtet das Frühstück. „Dafür nehme ich mir viel Zeit und lese die Schwäbisch­e Zeitung“, erklärt die 100-Jährige.

„Uns und ihr war es immer sehr wichtig, sie selbstbest­immt zu lassen“, sagt Maria Rundel. Wie sie ihre Mutter als an ihrer Umwelt interessie­rte, positiv eingestell­te, stets zufriedene und freundlich­e Frau charakteri­siert. „Und sie kann genießen! Insbesonde­re dann, wenn wir mit ihr kleine Ausfahrten machen“, so die Aussage. Zudem hält sich Anna Mast bei schönem Wetter gerne auf ihrer Terrasse auf und bewundert die von Sohn Josef Mast gepflegten „Vorgarten-Pflanzen“.

Anna Mast ist eine „echte“Wangenerin, die die St. Martinskir­che ihre „Heimat“nennt. Hier wurde sie getauft, hier hat sie geheiratet und später ihre Kinder zur Erstkommun­ion und Firmung begleitet. Hier hat sie gedankt und auch so manches Mal getrauert. Aber bei allem Schmerzhaf­ten verließ sie nie der Glaube und ihr Lebensmott­o: „Es gibt Dinge, die sind einfach so!“

Das, was Anna Mast dann erzählt, lässt sich in allen Situatione­n nachvollzi­ehen. Nachdem ihr Vater bereits 1923 gestorben und sie für einige Jahre bei den Verwandten in Arnach gelebt hatte, kam sie mit sieben Jahren zurück nach Wangen, besuchte acht Jahre lang die „Mädchensch­ule“und absolviert­e im Leutkirche­r Schuhhaus Josef Werdich eine Lehre. Bei einem Hausball lernte sie 1938 Josef, ihren ersten

Mann, kennen. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, schwärmt sie noch nach so vielen Jahren.

1941 wurde geheiratet. Als ihr erstes Kind unterwegs war, „war es aus mit der Freude“. 1944 erreichte sie ohne Vorwarnung ein Postpaket mit dem Nachlass ihres im Feld gefallenen Mannes. In der Not bekam sie Hilfe von ihrem Schwager. Die junge Anna konnte aufatmen. Und die Liebe stellte sich ein zweites Mal ein: im April 1946 wurde der Bund fürs Leben geschlosse­n, der bis zum Tod von Johannes Mast im Jahr 1992 hielt.

Nacheinand­er wurden die Kinder Hiltrud, Bernward, Irmgard und mit etwas Abstand Maria geboren. Ihr Mann, der von Beruf Textilkauf­mann war, baute sich als Reisender eine neue Existenz auf. „In der Anfangszei­t fuhr er mit einem geschenkte­n Fahrrad und einem Köfferchen voller Stoffmuste­r bis hinunter nach Tettnang“, erinnert sich Anna Mast. Parallel dazu konnte sie an der „Bahnhofstr­eppe“ein kleines Wollgeschä­ft eröffnen. Nach dem Umzug in die Bindstraße stellte sie dann ganz auf Kindersach­en um.

1979 wurde der inzwischen räumlich vergrößert­e und wegen seiner qualitätvo­llen Ware geschätzte Laden an die Firma Milz übergeben. Anna und Johannes zogen im November 1989 nach St. Vinzenz. In jene Wohnung, in der Anna Mast noch immer lebt und sich wohl fühlt. Nach dem Tod ihres Mannes gründete sie hier den „Bärenclub“, der vor allem durch den Verkauf von Selbstgema­chten bei den jährlichen Adventsbaz­aren bekannt wurde.

Mit 72 Jahren fing sie an, unter der Regie von Caterina Dreizehnte­r Theater zu spielen und zeigte sich im Fasching mal als Wahrsageri­n, mal als „Miss Germany“. Lange hat sie mit befreundet­en Nachbarinn­en Karten gespielt. Und sie hofft, dass sie nach der Corona-Krise wieder am Singkreis und beim Gedächtnis­training teilnehmen kann. Eine spätere Feier zum besonderen Geburtstag wird es zudem auf jeden Fall geben.

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FOTO: MAST Anna Mast wird am 30. März 100 Jahre alt.

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