Dem Virus nicht gewachsen
In Sierra Leone geht nach der Ebola-Epidemie nun die Angst vor Corona um
RAVENSBURG - Sechs Jahre ist es her, da wütete ein Virus in Freetown. Die Hauptstadt von Sierra Leone war von 2014 bis 2016 ein Brennpunkt der Ebola-Epidemie in Westafrika. 11 000 Menschen starben in der Region an den Folgen der Infektion, 4000 von ihnen in Sierra Leone. Das Gesundheitssystem brach zusammen, in Freetown blieben Leichen tagelang auf der Straße liegen. Nun geht die Angst um, dass sich die Geschichte wiederholen könnte.
„Die Ausstattung der Krankenhäuser ist in keiner Form dem gewachsen, was auf das Land womöglich zukommt“, ahnt Manfred Bischofberger. Der 58-Jährige aus Herbertingen und seine Frau Ursula Langkamp, eine frühere Weingartenerin, sind Landesdirektoren der Welthungerhilfe in Sierra Leone. Das Paar kümmert sich um Projekte der ländlichen Entwicklung, Ernährung, Wasser- und Sanitärversorgung. Doch jetzt ist das westafrikanische Land wegen des Coronavirus im Ausnahmezustand. Dabei gibt es bislang kaum bestätigte Infektionen. Zehn Fälle zählte die Weltgesundheitsorganisation WHO bis zum Dienstag, Tote gab es noch nicht.
„Ich schätze die Dunkelziffer viel höher ein“, berichtet Bischofberger im Gespräch mit der „Schwäbischen
Zeitung“am Telefon. „Es wird sehr wenig getestet.“Einer der beiden ersten bestätigten Corona-Fälle im Land sei eine einheimische Ärztin gewesen, die vorher nicht im Ausland gewesen war. Die Regierung ordnete daraufhin eine dreitägige Ausgangssperre an, um Infektionsketten nachzuverfolgen. Schulen und viele Märkte bleiben vorerst geschlossen. Vor allem aber: Die Grenzen sind dicht, und auch der Flughafen. Es gibt keinen Weg mehr, das Land zu verlassen.
„Das fand ich bedrohlich“, sagt Bischofberger über die Schließung des Flughafens. „Dass die Grenzen dicht gemacht werden, konnte ich mir vorher nicht vorstellen. Das hat uns stark ins Grübeln gebracht.“Am Palmsonntag hob noch einmal ein Flugzeug ab, mehrere europäische Staaten holten Bürger nach Hause – bis auf Weiteres war das wahrscheinlich der letzte Flug, vermutet Bischofberger. „Es hilft nicht, an Flucht zu denken.“Für die sieben Millionen
Einwohner Sierra Leones gibt es diese Möglichkeit ohnehin nicht. Auf ihre Kliniken können sie sich auch nicht verlassen. Gerade einmal elf Beatmungsgeräte gibt es im Land. Elf weitere sollen geliefert werden. Und es fehlt an Medizinern. „Ein Arzt kommt hier auf 30 000 Personen“, berichtet Bischofberger. „In Deutschland sind es hundertmal so viele.“
Dabei hat das Land aus der EbolaEpidemie gelernt: Das Bewusstsein für Hygiene sei hoch, sagt Bischofberger. Es gebe viele Stationen zum Händewaschen, zusätzliche Krankenstationen seien eingerichtet worden und sogar darauf eingestellt, infizierte Patienten von anderen zu trennen.
Andererseits: Eine Selbstisolation Infizierter ist kaum denkbar. Die Bevölkerungsdichte in der Millionenstadt Freetown gehört zu den höchsten in der Welt, wie der auf Datenanalyse in Krisenregionen spezialisierte Informationsdienstleister
ACAPS berichtet. Jeder dritte Bewohner lebt in informellen Siedlungen, knapp die Hälfte hat keinen Zugang zu fließendem Wasser.
Zudem plagen Traumata gerade jene Menschen, die erst vor wenigen Jahren eine Ebola-Infektion überstanden haben, und das nicht nur wegen der Krankheit selbst. Überlebende seien damals aus ihren Gemeinschaften ausgeschlossen worden, berichtet Bischofberger. Das Stigma sei erst mit der Zeit verschwunden, als die Folgen der Infektion, wie Bindehautoder Gelenkentzündungen, abklangen.
Hinzu kommt: Die Menschen haben schon einmal erfahren, welche wirtschaftlichen Folgen eine Epidemie haben kann. Ob in der Stadt als Straßenhändler, oder als Bauer auf dem Land: „Viele Menschen könnten nur wenige Tage ohne ein Einkommen überleben“, berichtet Bischofberger. Während der Ebola-Epidemie habe das Land zudem etliche Investoren verloren, die danach nicht wiedergekommen seien. Der Welthungerhilfe-Manager fürchtet außerdem eine Lebensmittelknappheit. Über die Hälfte des Grundnahrungsmittels Reis wird importiert, vor allem aus Asien. Was, wenn die Staaten dort beschließen, die Lebensmittel in der Corona-Krise für die eigene Bevölkerung bevorraten zu müssen? Oder wenn die globale Logistik nicht mehr funktioniert?
Bischofberger sieht nun die Aufgabe der Welthungerhilfe darin dazu beizutragen, dass es zumindest eine gute Ernte gibt, er spricht von Maniok als lokaler Alternative zum Reis. Auch hier gibt es düstere Erinnerungen an die Ebola-Epidemie, der in Sierra Leone eine Lebensmittelknappheit und Unruhen folgten. So blickt Bischofberger mit Sorge auf die nächsten Wochen und Monate der Corona-Krise in seinem Gastland: „Man kann nur hoffen, dass es gelingt, die Ausbrüche einzugrenzen.“