Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Preis ist in hohem Maße angemessen“

Früherer sächsische­r Ministerpr­äsident Georg Milbradt erhält Scheidegge­r Friedenspr­eis

- Von Peter Mittermeie­r

SCHEIDEGG - Wenn heute von „blühenden Landschaft­en“im Osten die Rede ist, gilt das in erster Linie für Sachsen. Die Entwicklun­g des Freistaate­s ist nicht zuletzt einem zu verdanken: Georg Milbradt. Der frühere Ministerpr­äsident aus Dresden hat am Samstagabe­nd im Kurhaus den Scheidegge­r Friedenspr­eis erhalten. „Der Preis ist im hohen Maße angemessen“, sagt Laudator Hans-Werner Sinn. „Wenn Sachsen funktionie­rt, gibt es keinen, der vor Georg Milbradt zu nennen wäre.“Der Ökonom kennt Milbradt seit einer gemeinsame­n Zeit an der Uni in Münster.

Zum zwölften Mal hat Scheidegg den Friedsprei­s verliehen. In der Vergangenh­eit ist die Auszeichnu­ng vor allem an Persönlich­keiten gegangen, die sich rund um den Mauerfall für die Einheit eingesetzt haben. Insofern tanzt Milbradt aus der Reihe. Der Finanzwiss­enschaftle­r betrat die große politische Bühne später, setzte sich dann aber „wie kaum ein anderer für den Wiederaufb­au ein“, wie es der Stifter des Preises, Manfred Przybylski, erklärt.

Kurt Biedenkopf holte Milbradt 1990 als Finanzmini­ster in das sächsische Kabinett. Der Finanzwiss­enschaftle­r hatte da nicht nur erste Meriten an der Hochschule erworben, sondern auch schon praktische Erfahrunge­n gesammelt. Von der Uni war er als Kämmerer an die Stadt Münster gewechselt. In Dresden traf er erst einmal auf das „Chaos der untergegan­genen DDR“(Sinn). Es gab keine politische­n Strukturen vergleichb­ar denen im Westen, ja nicht einmal einen Freistaat Sachsen. „Behörden aufbauen, Gemeinden mit einer Verfassung versehen, die ihnen Autonomie gab“, beschreibt Sinn die

Herausford­erungen. Und: „Das Rechtssyst­em musste aufgeschri­eben und in praktische Politik umgesetzt werden“.

Sinn vergleicht die „großartige Leistung“Milbradts beim Aufbau des Ostens mit der von Montgelas. Das ist gleichbede­utend mit höchstem Lob. Graf Montgelas hat im 19. Jahrhunder­t die bayerische Verwaltung von grundauf modernisie­rt, nach ihm sind Straßen und Plätze benannt.

Milbradt selber gewinnt der schwierige­n Lage 1990 im Rückblick durchaus etwas Positives ab. „Als Minister in München oder Berlin können sie nicht ganz von vorne anfangen. So ein Neuanfang ist ein großes Privileg“, sagt er. Er startete - finanzwirt­schaftlich - ohne Altlasten. In seinem ersten Jahr als Finanzmini­ster baute Milbradt einen „theoretisc­hen Haushalt“und stieg bei den Ausgaben niedrig ein. Das wirkt bis heute: Sachsen ist mit Bayern „leuchtende­s Vorbild in Sachen Schuldendi­sziplin“(Sinn).

18 Jahre lang war Milbradt im sächsische­n Kabinett, länger als jeder andere Politiker. Dabei hatte er nicht zuletzt die Städte und Gemeinden im Blick: „Als Minister bist Du wie der Fahrer eines Busses, der die Menschen sicher ans Ziel bringen soll. Aber der beste Fahrer versagt, wenn das Lenkrad nicht mit den Rädern verbunden ist. Die Räder sind die Landkreise und Kommunen“.

Den 30. Jahrestag der deutschen Einheit nennt Milbradt einen Freudentag. „Mit Ihrer Solidaritä­t, Ihrem Interesse und nicht zuletzt Ihren Steuergeld­ern haben Sie dazu beigetrage­n, dass wir ihn feiern können“, sagt er zu den Besuchern im Kurhaus. Freilich sind 30 Jahre Einheit nicht nur Grund zur Freude. Darauf weist Sinn hin. Anders als sein

Freund Milbradt ist der frühere Präsident des ifo-Institutes nie in die Politik gegangen. Er blickt mit den Augen eines kritischen Volkswirte­s auf die Entscheidu­ngen kurz nach der Wende. Und da sind aus seiner Sicht Fehler gemacht worden. Viel zu schnell wurden Löhne und Sozialleis­tungen im Osten an die im Westen angegliche­n, argumentie­rt der 72-Jährige. Die Produktivi­tät habe nicht Schritt gehalten. Das Ansinnen sei zwar moralisch berechtigt gewesen. „Leider ist die Marktwirts­chaft nicht moralisch. Es hat halt nicht funktionie­rt“, sagt Sinn mit Blick auf die produziere­nde Industrie. Dort sind 80 Prozent der Arbeitsplä­tze weggefalle­n. Es hätte einen anderen Weg gegeben, ist der Ökonom überzeugt. Viele Konzerne auch aus Asien wären bei einem niedrigere­n Lohnniveau bereit gewesen, in der früheren DDR zu investiere­n. Dazu kam es nicht, weil „westdeutsc­he Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­r die Verhandlun­gen für Ostdeutsch­land führten“.

Das hat Folgen: Bis heute hängt der Osten am Tropf des Westens. 60 Milliarden fließen im Jahr als Transfer in die neuen Länder. Sinn: „Wir machen es gern. Es sind unsere Brüder und Schwestern. Wir können es aber nicht beliebig weitertrei­ben.“

Als Volkswirt gibt Milbradt seinem Freund Recht. Als Politiker widerspric­ht er ihm. „Wenn der politische Druck da ist, kann ich nur versuchen, das Beste daraus zu machen“, sagt er. Wenn die Löhne steigen, müsse die Politik Branchen ansiedeln, die eine höhere Produktivi­tät haben. In Sachsen ist das mit der Automobili­ndustrie und Chipherste­llern teilweise gelungen. „Silicon Saxony“gilt als wichtigste­r Standort für die Halbleiter­industrie in Europa. Und auch in anderen Bereichen

habe der Osten, zumindest Sachsen, den Westen „ein- oder sogar überholt“, wie Milbradt sagt. Der 75-Jährige nennt Bildung und einige Technologi­efelder. So steckt hinter dem neuen 5-G-Mobilfunks­tandard Forschung der Technische­n Universitä­t Dresden.

Anders als viele andere Aufbauhelf­er ist Milbradt im Übrigen nicht in den Westen zurückgega­ngen. 1994 hat er sein Haus in Münster verkauft und ist mit seiner Familie nach Dresden gezogen. Dort wohnt er noch heute. „Ich will nicht zurück. Die alte Heimat vermisse ich nicht.“

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