Diagnose Männer-Rente
Beruf weg, Bedeutung weg: Ein neuer Gesundheitsreport zeigt, dass Männern der Übergang in die dritte Lebensphase schwerer fällt als Frauen
Im ersten Jahr werden Projekte angepackt, der Garten blüht, im Keller ist endlich Platz zum Werkeln. Pilgerwege werden abgelaufen, Weltstädte besucht und im Strandurlaub entspannt. „Das erste Rentenjahr läuft bei den meisten noch gut – sie sind glücklich“, sagt Matthias Stiehler, Erziehungswissenschaftler und einer von drei Autoren des neuen Männergesundheitsberichts. Dann folgt für viele ein Loch – junge Rentner leiden unter dem Bedeutungsverlust, hadern mit dem körperlich und kognitiven Abbau und suchen nach einem Sinn. Das betrifft vor allem Männer.
Der vierte Gesundheitsbericht der Stiftung Männergesundheit erschien am Donnerstag pünktlich zum internationalen Männertag. Er zeigt, dass das angeblich starke Geschlecht stärker unter der Zäsur Rente leidet als Frauen. Das hat Auswirkungen: Männer sterben durchschnittlich fünf Jahre früher als Frauen, leiden unter Depressionen, begehen häufiger Suizid, werden öfter suchtkrank und aggressiv. Die Stiftung versucht, ein Bewusstsein dafür zu schaffen: Denn in nächster Zeit treten die geburtenstarken Jahrgänge über die Renten-Schwelle. Dass gerade Männern der Übergang so schwerfällt, liegt auch daran, dass sie ihr Leben jahrzehntelang auf ihren Beruf ausrichten – es steckt jedoch noch mehr dahinter.
Schon in den Jahren vor der Rente beginnt bei vielen das Grübeln, auf der Arbeit verlieren viele ältere Mitarbeiter immer mehr an Bedeutung – junge Mitarbeiter werden vorgezogen und dürfen Projekte leiten. „Viele Männer erleben in ihren letzten Jahren im Beruf viele Kränkungen“, sagt Stiehler. Der Gipfel dieser Kränkung sei der erzwungene Vorruhestand. Dieser werde wohl immer mehr zum Problem, sagt Eckart Hammer, frisch pensionierter Professor an der evangelischen Hochschule Ludwigsburg und engagiert im Bundesforum Männer. Durch die Corona-Krise könnten in Zukunft noch mehr Arbeitgeber ihre Mitarbeiter in die Rente bitten.
„Gestern waren sie noch unverzichtbar, heute kräht kein Hahn mehr nach ihnen“, beschreibt Hammer das Gefühl, mit dem Arbeitnehmer in die Rente geschickt werden. Er schlussfolgert: Erlebt ein Mann in seinen letzten Berufsjahren diese Zurückweisung, ist die Wahrscheinlichkeit einer Depression oder Sucht hoch – nachfolgende Krankheitsbilder wie Probleme mit dem Herz-KreislaufSystem inklusive.
Trotz möglicher Kränkungen: Männer in produzierenden Berufen wie Handwerker oder Maschinenführer starten Hammer zufolge grundsätzlich glücklich in die Rente, da die Erwerbstätigkeit oft von körperlicher Arbeit geprägt war. Dem gegenüber steht das Problem der Besserverdiener, wie Firmenlenker oder Hochschulprofessoren. „Je höher die Position, desto tiefer der Absturz in die Bedeutungslosigkeit“, erklärt Hammer.
Den verschiedenen beruflichen Gruppen liegt jedoch das gleiche Muster zu Grunde – Männer beziehen jahrzehntelang Selbstbewusstsein, Sinn und Bedeutung größtenteils aus dem Berufsleben. Sie vernachlässigen dabei soziale Kontakte und Hobbys.
Stiehler und Hammer sind sich einig: Die Arbeitgeber müssen mehr Verantwortung für den Renteneintritt ihrer Mitarbeiter übernehmen. Sei es durch die Wertschätzung bis ins hohe Alter oder indem das Unternehmen durch Beratungsangebote die Mitarbeiter aktiv begleitet. Außerdem seien flexible Arbeitsmodelle nützlich. So könnten Frührentner beispielsweise als Mentoren eingesetzt werden. Solche Angebote seien wichtig, denn einigen Männern werde mit der Rente das einzige Standbein weggezogen, das sie haben.
Frauen erleben derweil in früheren Jahren bereits größere Lebensbrüche, sagt Eckart Hammer – die Geburt der Kinder beispielsweise. Außerdem wechseln viele Frauen in dieser Phase in die Teilzeit, knüpfen mehr Kontakte in unterschiedlichen sozialen Kreisen und engagieren sich außerhalb der Arbeitswelt – eine gute Vorbereitung für die Rente. Hammer verdeutlicht diesen Unterschied mit einer Anekdote: „Ich frage in meinen Seminaren die Männer im Vorrentenalter, ob sie gute Freunde haben. Ich definiere guten Freund dann als jemanden, mit dem man über seine Eheprobleme spricht – da ist bei den meisten Sense.“
Weitere Probleme können bei Männern dazukommen: Krankheiten werden häufig gar nicht als solche erkannt. „Viele Männer, die derzeit in Rente gehen, sind mit veralteten Rollenbildern aufgewachsen“, erklärt Dr. Jochen Tenter, Leiter der Abteilung Alterspsychologie am Zentrum für Psychiatrie Weissenau in Ravensburg. Ein Mann gelte erst dann als krank, wenn man das auch körperlich sehe. „Alles, was die geistige Gesundheit betrifft, wird dann gerne als Psychokram abgetan.“Er schätzt, dass rund 30 Prozent der über 65-Jährigen psychische Störungen haben. Deren Ursprung liege nicht selten im misslungenen Renteneinstieg, sagt der Autor des Gesunheitsberichts Matthias Stiehler. Angst, Demenz, Psychosen und Depressionen werde von Männern nicht erkannt, sondern häufig überspielt – durch Sucht, Hyperaktivität oder Aggressivität. Im Alter seien Männer überproportional von Suizid betroffen, sagt Tenter, litten daher vermutlich auch häufiger unter Depressionen – diese werde bei Älteren aber kaum diagnostiziert.
„Das alles betrifft aber bei Weitem nicht alle Senioren“, relativiert Tenter. Es gebe einige, die das besser hinbekommen, andere tun sich schwerer. Auch die Unterschiede zwischen Mann und Frau dürften nicht verallgemeinert werden. Auch Matthias Stiehler sagt, sein Männergesundheitsbericht sei eine Zusammenfassung vieler kleinteiliger Studien. Allgemeingültige Aussagen oder Zahlen ließen sich kaum ableiten. Die Ergebnisse gäben statistische Tendenzen wieder.
Ein intaktes soziales Umfeld, egal ob Freunde oder Familie, sei der beste Schlüssel für eine sinnerfüllte Rente, sagen die Wissenschaftler. Auch Vereine spielen demnach eine wichtige Rolle – sie sind ein Ort der Bindung und stiften Bedeutung für die Mitglieder. Aber auch die aktive Vorbereitung auf die Rente sei wichtig. Männer müssten sich mit der Frage beschäftigen: Was erwarte ich von meinem dritten Lebensabschnitt?
Hilfsangebote für Männer gibt es jedoch selten. Eckart Hammer bietet eines dieser wenigen Seminare für Renteneinsteiger an – mal kommen einige, häufig aber nur wenige. „Wenn ich frage, warum die Männer gekommen seien, heißt es meistens: Meine Frau hat mir das geschenkt.“Auch hier stehen vor allem veraltete Rollenbilder im Weg – denn Männer reden nicht über ihre Befindlichkeiten. Doch genau da liegt laut Hammer ein Schlüssel zum Erfolg: „Allein,
dass die Männer merken, dass nicht nur sie diese Probleme haben, hilft ihnen schon weiter.“
Diese männerspezifischen Probleme beim Renteneintritt werden wohl noch Jahrzehnte aktuell bleiben. Eine neue Generation, die den alten Rollenbildern den Kampf ansagt, macht jedoch Hoffnung. Junge Männer sehen sich seltener in der Ernährerrolle, kümmern sich häufiger um die Kinder, legen Wert auf ihre Freizeit und bauen sich dadurch mehr Standbeine. Doch stimmt dieses Bild?
Eine aktuelle Studie des Marburger Soziologen Martin Schröder zeichnet ein anderes. Demnach sind Männer, insbesondere Väter, am zufriedensten, wenn sie viel arbeiten.
Die Zufriedenheit von Frauen hängt dagegen kaum von ihren Arbeitszeiten ab. Und auch Eckart Hammer glaubt: „Man darf die Veränderungen der Gesellschaft nicht überbewerten. Junge Paare nehmen sich da viel vor, finden sich vor allem durch Kinder aber schnell in alten Rollen wieder.“
Eckart Hammer, frisch pensionierter Professor an der evangelischen Hochschule Ludwigsburg, über das Gefühl, mit dem Männer oft in Rente gehen.
Was Schnauzbärte im November mit Männergesundheit zu tun haben, sehen Sie online unter