Je kleiner die Firma, desto größer die Belastung
Im Mai tritt die neue Medizinprodukteverordnung in Kraft – Die Novelle könnte die Branche nachhaltig verändern
- 10 000 Ansichten, 350 Likes und unzählige Nachrichten innerhalb von 24 Stunden: Noch nie habe er mit einem Eintrag in dem Berufsnetzwerk Linkedin so viele Reaktionen ausgelöst, erklärt Medizintechnikunternehmer Thomas Butsch völlig euphorisiert. Der TÜV Süd hat wiederverwendbare chirurgische Instrumente seiner Firma Hebu erstmals nach der neuen Eu-medizinprodukteverordnung (MDR) zertifiziert. Bislang war das für klassisches Operationsbesteck in der Regel nicht nötig. Für Butsch ist das erste Zertifikat ein Meilenstein, der für andere noch in unberechenbarer Ferne liegt. Bei allen frisst die Umsetzung der MDR Zeit und Geld.
Am 26. Mai tritt die MDR nach vierjähriger Übergangsfrist in Kraft. Mit dem neuen Regelwerk sollen Medizinprodukte für Patienten noch sicherer und transparenter gemacht werden. Durch eine zentrale Datenbank sollen Patienten Herkunft und Produktinformationen einsehen können. Für Unternehmen gelten höhere Anforderungen an die technische Dokumentation und Überwachung ihrer Produkte. Das bindet natürlich Kapazitäten. Je kleiner das Unternehmen, desto größer die Last. Es hapert aber auch an der Organisation.
Schulterhoch reiht sich ein Schrank voll mit Hängeregistern an den nächsten. Technische Zeichnungen von mehr als 10 000 Produkten bewahrt Thomas Butsch darin auf – alle streng sortiert und einzeln in Plastikhüllen verpackt. „Das schüttelt man nicht mal eben so aus dem Ärmel“, sagt Butsch. Im Schnelldurchlauf führt der Hebugeschäftsführer durch die Tuttlinger Firmenzentrale. Schritt- und Redetempo passen zu seinem Credo: Bloß keine Zeit verlieren und auf jeden Fall die Kontrolle behalten. Seinen Personalstamm im Qualitätsmanagement stockte er in Vorbereitung auf die MDR von einer Teilzeit- auf vier Vollzeitkräfte auf. Sie sammelten alle Unterlagen ihrer Produkte zusammen, fertigten Artikellisten und Studien zu verschiedenen Produktgruppen an. „Ein Vorteil für mich war, dass wir 80 Prozent des Umsatzes selbst produzieren. Ich kenne das Material und die Prozessschritte.“Durch frühzeitige Planung habe er auch die finanzielle Last verteilen können. So investierte Butsch nach und nach in sechs Laserdrucker, mit denen er jedem seiner Produkte eine einzigartige Nummer verpasst. Auch das schreibt die MDR vor. „Die Drucker haben mich insgesamt eine Million Euro gekostet. Die schafft man sich nicht auf einmal an“, sagt Butsch.
Nur wenige Kilometer entfernt bereiten Anette Dufner schon ein paar Zehntausend Euro Sorgen. Die Geschäftsführerin des gleichnamigen Familienbetriebs zahlt derzeit jährlich bis zu 40 000 Euro an externe Berater, die bei den Zertifizierungen
helfen. Aktuell arbeitet der Familienbetrieb vor allem an der Neuzulassung seiner Produkte der Risikoklasse 1.
Zum Hintergrund: Die MDR unterscheidet insgesamt drei Risikostufen. Auf Stufe 1 können Hersteller grundsätzlich eigenständig prüfen und erklären, dass ihre Erzeugnisse alle Anforderungen erfüllen. Bis auf ein paar Ausnahmen zertifizieren sie sich praktisch selbst. Bislang galt das auch für sogenannte wiederverwendbare chirurgische Instrumente (Klasse 1r). Dazu zählen etwa Greifzangen, Skalpelle oder Endoskope. Durch die MDR müssen aber sogenannte Benannte Stellen die Geräte neu prüfen und zertifizieren.
Im Raum Tuttlingen werden vor allem 1r-produkte hergestellt. Bei Dufner umfasst der Produktkatalog allein in dieser Risikoklasse rund 12 000 Artikel. Von rund 1500 habe man sich schon getrennt, weil sich eine technische Dokumentation nicht mehr rentiert hätte, erklärt der Qualitätsmanagementbeauftragte Dietmar Möhrle. Manchmal frage er sich auch, ob der Nutzen den Aufwand rechtfertige. In den Artikellisten, die er erstellen und immer wieder anpassen müsse, erkenne er diesen jedenfalls nicht.
Forderungen nach höheren Anforderungen an Medizinprodukte wurden 2012 im Skandal um fehlerhafte Brustimplantate aus Frankreich laut. Jahrelang hatte die Firma Poly Implant Prothese Implantate aus schädlichem Industriesilikon verkauft. Die MDR will das unter anderem mit strengeren Anforderungen an die klinische Überwachung der Produkte verhindern. Vor allem im Bereich der Gefahrstoffe gelten verschärfte Regelungen für klinische Bewertungen.
Auf die Frage nach wesentlichen Neuerungen verweisen die Tuttlinger Betriebe vor allem auf eine Vielzahl
von Berichten, die sie in Zukunft pflegen müssen. An anderer Stelle verändert die MDR aber auch Produktionsprozesse. Die Tuttlinger Lederfabrik August Renz etwa stellt Leder her, das zu orthopädischen Einlagen und Prothesen weiterverarbeitet wird. „Normalerweise verwenden wir dazu unter anderem Fungizide, die gewährleisten, dass eine Einlagensohle nicht schimmelt“, erklärt Gerber Johannes Renz. Durch die MDR müsste das Leder aber biokompatibel sein. Das schließe den Einsatz von Fungiziden aus. Die Suche nach Alternativen gestalte sich schwer.
Auch wenn die MDR unbequem sei und viel Arbeit mache: Die Regelungen seien gerechtfertigt, heißt es mehrheitlich aus Unternehmerkreisen. Sie strukturierten die Arbeit der Betriebe, stärkten die Rückverfolgbarkeit der Produkte und damit auch die Transparenz für Patienten.
Das bezeugt auch Thorsten Kurz, Bereichsleiter Clinical & Quality Affairs bei Medicon in Tuttlingen. „Die MDR ist nicht schlecht. Das Problem ist: Sie ist schlecht vorbereitet.“Viele Regelungen blieben zu unkonkret. Außerdem habe es 2017, als die MDR verabschiedet wurde, nur wenig Hilfestellungen gegeben. Erst seit dem vergangenen Jahr stelle die sogenannte Koordinierungsgruppe Medizinprodukte – ein Euexpertengremium – vermehrt Leitfäden zur Verfügung. Auch die Benannten Stellen müssten sich immer wieder abstimmen, wie Artikellisten oder Berichte gestaltet werden müssen. Das führe zu Überarbeitungen und Verzögerungen.
Einen Zulassungsstau beklagen Kritiker immer wieder. Stand Ende März gibt es insgesamt 19 Stellen, die weltweit nach Mdr-standards zertifizieren dürfen. Wie viele weitere hinzukommen, bleibt offen. Denn: Wer Medizinprodukte nach alten
Regelungen zertifiziert hat (zuletzt 58 Stellen), darf das nach Mdr-regularien nicht einfach weiter tun. Die Benannten Stellen müssen neu akkreditiert werden.
Die weltweit größte Prüfstelle ist der TÜV Süd. Aus der Münchner Zentrale heißt es auf Anfrage, dass Abstimmungen mit übergeordneten Behörden Usus seien, um die Umsetzbarkeit von Gesetzen auszuloten. Zugleich schreibt die Pressestelle: „Auch wenn wir als TÜV Süd unsere Kapazitäten in diesem Bereich erheblich erweitert haben, können die wenigen Benannten Stellen allein den Markt nur schwerlich vollumfassend bedienen.“Von einem Zertifizierungsstau könne aber nicht die Rede sein. Schließlich könnten Produkte mit alten Zertifikaten bis 2024 am Markt bleiben und weiterverkauft werden. Bis dahin gewährt die MDR eine Übergangsfrist.
Anfang März setzte sich die Landesregierung Baden-württemberg in einem Brief an die Bundeskanzlerin und die Eu-kommission für längere Fristen ein. Zudem fordert sie, Hürden bei der Zertifizierung abzubauen. In einer Videokonferenz mit Ministerpräsidenten, Bundeskanzlerin und Eu-kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe Winfried Kretschmann (Grüne) das Thema noch einmal direkt angesprochen, erklärt eine Regierungssprecherin. Wirklich Gehör scheint Stuttgart in Brüssel aber nicht zu finden. Ein Kommissionssprecher erklärt: „Die Kommission beabsichtigt nicht, Änderungen der Verordnungen vorzuschlagen.“Diskussionen fänden auf europäischer Ebene statt.
Auf Entlastung hatte die Landesregierung vor allem für kleine und mittelständische Betriebe (KMU) gehofft. Darauf könne man aber keine Rücksicht nehmen, erklärt die Kommission: „KMU müssen hinsichtlich der Sicherheit und Leistung
von Medizinprodukten dieselben Anforderungen erfüllen wie alle anderen Hersteller, da Qualität und Sicherheit der Produkte nicht von der Größe des Herstellungsunternehmens abhängen können.“
Das Ungleichgewicht zwischen kleinen und großen Betrieben ist trotzdem offensichtlich. So blickt der nordhessische B.-braun-konzern, die Mutter von Tuttlingens größtem Medizintechnikunternehmen Aesculap, der neuen Verordnung gelassen entgegen. „Wir haben glücklicherweise eine Größe, dass wir das stemmen können. Bei uns sind alle Sparten zertifiziert“, sagte B.-braun-chefin Anna Maria Braun vor wenigen Tagen. Was nicht heiße, dass die Arbeit getan sei und die Novelle keine Ressourcen binde.
Auch der Tuttlinger Endoskopehersteller Karl Storz hat schon Ende 2020 die ersten zwei Mdr-zertifikate erhalten. Weltweit beschäftigt das Unternehmen 8500 Mitarbeiter in mehr als 40 Ländern. Schon seit Jahren arbeiten Fachabteilungen international an der MDR. „Man darf den Aufwand nicht unterschätzen. Er ist erheblich“, erklärt Pressesprecherin Regina Stern. Irgendwo zwischen fünf und zehn Prozent bewege man sich wohl bei den Kosten, gemessen am Umsatz. Nichtsdestotrotz laufe die Forschung wie gehabt weiter, sagt Martin Leonhard, Leiter des Technologiemanagements.
So viele Menschen, wie sich bei Karl Storz allein mit der MDR beschäftigen, sind bei Dufner noch nicht einmal angestellt. Von 25 Mitarbeitern an zwei Standorten beschäftigt sich eine Vollzeitkraft fest mit der MDR. Bereichsübergreifend werden weitere hinzugezogen, um stundenweise zu unterstützen. An Innovationen könne man so aktuell nicht arbeiten. Fraglich sei auch, wie konkurrenzfähig man bleiben könne, wenn man Preise anheben müsse, um den Aufwand für die MDR zu kompensieren.
Von insgesamt 400 Medizintechnikunternehmen im Raum Tuttlingen geht es vielen so wie Dufner. Die große Mehrheit der Betriebe ist klein oder mittelständisch. Manche kapitulierten vor den neuen Regelungen und gäben ihren Betrieb auf, andere verkauften, beobachtet Thomas Butsch: „Was hier gerade aufgekauft wird, ist enorm. Ich könnte mein Unternehmen aktuell jede Woche verkaufen.“Die Branche befinde sich mitten im Umbruch.
Auch aus anderen Ecken ist zu hören, dass die Medizinprodukteverordnung die Branche unweigerlich verändern werde. In gewisser Weise sei es eine natürliche Auslese, beschreibt ein Qualitätsmanagementbeauftragter. Er ist überzeugt, dass der Standort Tuttlingen dadurch nicht geschwächt wird. „Wo etwas wegfällt, entsteht sicher etwas Neues.“Eine nüchterne Betrachtung, die vor allem für einen Familienbetrieb wie Dufner mit jahrzehntelanger Tradition emotional nur schwer zu verkraften sein dürfte.