Der letzte Zeitzeuge
Historiker und Russlandexperte Wolfgang Leonhard wäre heute 100 Jahre alt geworden
Wolfgang Leonhard war bis ins hohe Alter ein gefragter Mann. War der Historiker doch ein wichtiger Zeitzeuge der deutschen Geschichte: Er gehörte zum innersten Führungskreis der Kommunisten, der nach 1945 im sowjetisch besetzten Deutschland die Gründung der DDR vorbereitete. Doch dann brach Leonhard mit dem Kommunismus – und wurde dessen Gegner. Der vor knapp sieben Jahren gestorbene renommierte Russlandexperte und Publizist wäre an diesem Freitag 100 Jahre alt geworden.
Leonhard hatte die letzten Jahre in seinem Haus in Manderscheid in der Eifel verbracht – umgeben von mehr als 6000 Büchern über die UDSSR und die DDR, mit der Analyse des real existierenden Kommunismus. 21 Jahre lang bis 1987 lehrte er als Professor an der Us-eliteuniversität Yale über die Sowjetunion und den Kommunismus.
Und war Bestsellerautor: Seine Wandlung vom begeisterten Kommunisten zum Sowjetkritiker beschrieb er 1955 in „Die Revolution entlässt ihre Kinder“– mit einer Millionenauflage. „Sein außergewöhnliches Wirken bleibt unvergessen“, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) anlässlich des
Jahrestages. „Wolfgang Leonhard war ein herausragender Historiker und wichtiger Zeitzeuge der deutschen Geschichte. Seine kritische Beleuchtung der Vergangenheit war stets auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben.“
Leonhard wurde in Wien geboren und hieß zunächst Wladimir Leonhard. Den russischen Vornamen bekam er von seiner Mutter, der Lyrikerin Susanne Leonhard. Sie war eine Freundin von Rosa Luxemburg und begeistert von der Sowjetrevolution. 1935 floh sie vor den Nationalsozialisten mit ihrem Sohn nach Moskau.
Dort besuchte er bis 1940 in Moskau die Schule, studierte dann Lehramt und wurde ab Sommer 1942 an der Komintern-schule für eine spätere kommunistische Führungsrolle ausgebildet. Im April 1945 wurde er der „Gruppe Ulbricht“zugeteilt – geleitet von dem späteren Ddr-staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. Kurz vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands
wurden die Genossen nach Deutschland gebracht, um dort einen kommunistischen Staat aufzubauen. „Das mit dem Wladimir ist schlecht, hast du keinen deutschen Vornamen?“sagte Ulbricht während des Fluges am 30. April 1945. Leonhard berichtete einmal, er habe Wolfgang angeboten. Ulbricht: „Na gut, dann bist du eben der Wolfgang.“
Leonhards Hoffnung, nach dem Ende des Nationalsozialismus werde es in Deutschland eine „antifaschistisch-demokratische Republik“und in der UDSSR ein freieres, toleranteres System geben, wurde enttäuscht. Im März 1949 floh Leonhard, damals Lehrer an der Parteihochschule, nach Jugoslawien. 1950 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über.
„Ich bin der Letzte, der die Nachkriegszeit noch ganz genau in Erinnerung hat“, hatte Leonhard zu seinem 85. Geburtstag gesagt. Er war am 17. August 2014 nach schwerer Krankheit gestorben. (dpa)