Bartgeier kreisen wieder über Bayern
Zwei junge Tiere wurden jetzt im Alpenraum ausgewildert – Vor 100 Jahren waren sie ausgerottet worden
- Noch sind die beiden Geier versteckt im Holzhaus, zwei Dutzend Meter entfernt von der kleinen Festgesellschaft in Ramsau am Rande des Nationalparks Berchtesgaden. Aber von der in den südöstlichsten Winkel Deutschlands angereisten Prominenz werden sie schon in höchsten Tönen gepriesen und gefeiert. Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) nennt sie ein „ornithologisches Highlight“. Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU) meint: „Der Bartgeier ist ein richtiger Urbayer.“Und weiter: „Ich platze vor Stolz.“Norbert Schäffer, Vorsitzender des Landesbunds für Vogelschutz (LBV), spricht vom „bundesweit wahrscheinlich spektakulärsten Naturschutzprojekt dieses Jahres“.
Erstmals werden zwei Bartgeier in den bayerischen Alpen in ihrem einstigen hochalpinen Lebensraum ausgewildert – nachdem sie vor 100 Jahren ausgestorben waren, ja die Menschen sie ausgerottet hatten. Die Vögel sind für Menschen und andere Lebewesen zwar völlig ungefährlich, sie ernähren sich fast ausschließlich von den Knochen toter Tiere. Damals jedoch machte man sie aber für das Reißen von Lämmern und Schafen verantwortlich. Ja, es gab Schauergeschichten, dass sie es auch auf Babys abgesehen hätten.
„Giganten der Lüfte“werden sie genannt, mit einer Flügelspannbreite von 2,90 Metern kann kein anderer Greifvogel in Europa mithalten. Der Steinadler etwa, derzeit noch der größte in den bayerischen Alpen ansässige Vogel, kommt nur auf 2,30 Meter. Für die Bartgeier haben hoch oben am Berg im alpinen Gelände Projektmitarbeiter vom Nationalpark und von den Vogelschützern eine geeignete Nische für die Auswilderung vorbereitet. „Ende Juni werden die jungen Bartgeier flügge sein und ihre Nische verlassen“, erklärt Ulrich Brendel vom Nationalpark. Er ist auch da bei der Veranstaltung am Klausbachhaus, wo der Nationalpark seine Informationsstelle in einem feinen alpenländischen Bauernhaus hat, inklusive Blühwiese.
Die beiden Tiere kommen aus dem südspanischen Andalusien, wo sie in einer darauf spezialisierten Station gezüchtet wurden. „Das ist ein großer Aufwand“, meint Norbert Schäffer vom LBV. Von da ging es in einem klimatisierten Fahrzeug für Tiertransporte zuerst nach Nürnberg. Dort wurden sie beringt und mit Sendern ausgestattet. Es handelt sich um zwei Mädchen, die 88 und 91 Tage alt sind. Als Küken sollte man sie aber nicht bezeichnen: Mit kleinen flauschigen Bällchen haben sie nichts mehr zu tun. „Die Vögel sind letztlich bereits ausgewachsen und wiegen sechs bis sieben Kilo“, sagt Toni Wegscheider, der die Auswilderung für den LBV leitet. „Die sind so groß wie Schwäne.“
Ihre Namen, lange ein Geheimnis, wurden in einem Wettbewerb aus Vorschlägen von Schülerinnen und Schülern aus der Region ausgewählt. Und so werden aus den Spanierinnen echte Bayerinnen, anders kann es nicht sein: Bavaria wird der eine Vogel benannt, Wally der andere. Bajuwarisierung pur.
Man darf sich eine Auswilderung nicht so vorstellen, dass man ein Männchen und ein Weibchen zusammen aussetzt und hofft, dass diese bald Junge bekommen. Bavaria und Wally werden erst in sechs bis sieben Jahren geschlechtsreif sein, so der LBV. Vielmehr werden nun jedes Jahr weitere Tiere ausgewildert, 20 bis 30 sind geplant, sodass sich später eine noch größere Zahl von ihnen bilden wird. Auf rund 300 Exemplare wird die Population in den gesamten Alpen mittlerweile geschätzt. In Deutschland wurden vor allem in den Allgäuer Alpen in den vergangenen Jahren immer häufiger Bartgeier gesichtet, wenige Kilometer hinter der österreichischen Grenze hatte sich im Tiroler Lechtal ein Brutpaar angesiedelt. Im Alpenraum schlüpfen inzwischen jährlich 30 bis 40 Tiere in der freien Natur, während noch 20 ausgewildert werden. Bei rund 1000 Tieren dürfte der Bestand in den Alpen gesichert sein. Ein Ziel, das in zehn bis zwanzig Jahren erreicht sein könnte.
Dabei hat es sich als absolut notwendig erwiesen, die Geier noch als Küken auszusetzen, um sie auf ihre neue Heimat zu prägen. In den 1970er-jahren hatte man noch den Fehler gemacht, wilde, erwachsene Bartgeier in Afghanistan einzufangen und in der Schweiz auszusetzen. Keine gute Idee. „Das Experiment ist krachend gescheitert“, berichtet Toni Wegscheider. „Die sind verhungert und verschollen.“Inzwischen ist man schlauer und weiß, wie es geht. Wegscheider selbst war schon bei etlichen Auswilderungsaktionen in Österreich und der Schweiz dabei.
Vor allem in den westlichen und den Zentralalpen werden Bartgeier schon seit Mitte der 1980er-jahre ausgewildert, dort vermehren sich die Tiere seit 1997 selbstständig. In den Ostalpen geht die natürliche Fortpflanzung hingegen nur schleppend voran. Mit dem bayerischen
Projekt soll dies angekurbelt werden. Für Norbert Schäffer ist das Ziel „ein zusammenhängendes Verbreitungsgebiet von Asien über den Alpenraum bis hin zu den Pyrenäen und nach Spanien.“Berchtesgaden soll ein „Trittstein“werden, mit dem sich die Geier komplett über ihr Gebiet austauschen können.
Bevor Bavaria und Wally vom Bartgeier-team ins Gebirge gebracht werden, dürfen sie raus aus dem Holzhaus und werden stolz präsentiert. Ruhig und ziemlich stoisch schauen einen die mit den markanten Schnäbeln, Augen und dem Gefieder ausgestatteten Tiere an. „Das schadet denen nicht, das stecken die locker weg“, sagt Ulrich Brendel vom Bartgeier-team. Und Ministerin Kaniber ist so begeistert vom Anblick, dass sie die Tiere am liebsten herzen möchte.
Dann geht es weiter in die Freiheit. Die beiden großen, eigens gefertigten Tragen aus hellem Holz stehen schon da an einer Stufe vor dem Klausbachhaus. Bavaria und Wally kommen rein und werden auf Transportkraxen raufgebracht. Interessierte können auf dem steilen Bergweg noch 45 Minuten lang folgen, dann geht es nur noch für ein kleines Team durch wegloses Gelände, wo Steinschlaggefahr besteht. Oberhalb der sogenannten Halsgrube in 1300 Metern Höhe wurden in der Felsnische Nester aus Fichtenzweigen und Schafwolle vorbereitet. 20 Meter lang, herrliche Aussicht. Als erste Stärkung erhalten Bavaria und Wally Gamsknochen.
Der Zeitpunkt jetzt erscheint ideal für die Auswilderung: Mit ihren rund 90 Tagen sind die Tiere auf der einen Seite zwar aus dem Gröbsten raus und brauchen keine Wärme mehr von ihren Eltern. Auf der anderen Seite können die Tiere aber noch nicht fliegen – was bedeutet, dass ihnen etwas Zeit verbleibt, sich die Umgebung gut einzuprägen und als ihre Heimat abzuspeichern. So ist es wahrscheinlich, dass sie auch später hierher zurückkehren.
Ulrich Brendel geht davon aus, dass die Vögel ausgiebig mit Flugübungen beginnen. Futter erhalten sie noch bis in den späten Sommer, denn das wäre Aufgabe ihrer Eltern gewesen und wird nun vom Menschen übernommen. Die Vogelschützer legen es nachts aus, wenn die Tiere schlafen. Denn die Nahrung soll nicht mit Menschen in Verbindung gebracht werden. In drei bis vier Wochen sollte es zu ausgiebigen Flugübungen kommen. Brendel: „Dann sind ihre Flügel stark genug, um mit ihrer 2,90 Meter Spannweite das Körpergewicht von sechs Kilogramm in die Luft zu heben.“
Sobald die Bartgeier sich selbst versorgen können, machen sie sich auf Wanderschaft. In einem Gebiet von rund 10 000 Quadratkilometern sind sie in den nächsten Jahren unterwegs. Sollten sie in dieser Zeit keinen Partner finden und in dessen Heimat sesshaft werden, dürften sie nach einigen Jahren wieder in die Region um Berchtesgaden zurückkehren und sich dort niederlassen – so lange, bis sie in der Heimat mit einem Artgenossen, der wiederum auf Wanderschaft vorbeikommt, eine Beziehung eingehen. Eine Beziehung, die dann ein Leben lang halten wird.
Und ein solches kann lange dauern. „Ein Weibchen hier in der Nähe, die Alexa, ist 1988 ausgewildert worden“, erzählt Toni Wegscheider. „Die brütet immer noch, die ist topfit.“In Gefangenschaft würden Bartgeier über 50 Jahre alt. Zumindest 40 Jahre dürften auch in freier Wildbahn realistisch sein, schätzt der Biologe. Ihn wie viele andere Menschen faszinieren diese Tiere. „Allein durch diese Größe“, schwärmt er, „diese unglaublich majestätische Gestalt mit den geschwungenen, falkenartigen Flügeln und dem langen markanten Schwanz.“
Und die interessanten Verhaltensweisen: Sie lassen die Knochen etwa von Schaf, Gams oder Steinbock aus großer Höhe auf Felsplatten zerschellen, um sie so zu zerkleinern – und dann schlucken zu können. Manchmal machen sie das 30-, 40-Mal, bis es klappt. Oder dass sie sich selbst liebend gerne in rotem Schlamm mit großem Enthusiasmus rötlich färben. „Niemand weiß, warum die das machen. Ein superfaszinierendes Tier.“
Wenn alles klappt, wird man auch in den bayerischen Alpen den Anblick der kreisenden Bartgeier genießen dürfen. Denn das Schöne an dem großen Vogel ist aus Sicht von Naturliebhabern nicht nur, dass er so harmlos ist, sondern auch, dass er sich gerne zeigt. „Bartgeier sind sehr neugierig“, erzählt Wegscheider. „Sie fliegen regelmäßig in sehr geringer Höhe über Bergsteiger hinweg und schauen, was die da unten machen.“Das gilt sicherlich genauso auch umgekehrt: Die Bergsteiger schauen, was die da oben machen.
Bartgeier-tv: Das aktuelle Geschehen in der Auswilderungsnische überträgt der LBV live per Webcam: