Wieder gemeinsam trainieren, schwitzen und lachen
Auch Lindauer Vereine verlieren Mitglieder – Sportler wollen beim Neustart vernünftig sein
- Die Freude ist groß. Nach monatelanger Zwangspause geht’s auch wieder im Sport los. Jetzt wird sich zeigen, wie viele Hobby-sportler den Weg vom Sofa in die Turnhalle finden. Denn bei aller Euphorie: Nicht alles lässt sich nachholen. Das gilt für die Pläne mancher Sportler, aber auch für die Vereine, die durch die Corona-pandemie in Bedrängnis geraten sind.
Schwarz-grüne Trikots bevölkern im Lindauer Stadion den Kunstrasenplatz, der so lange verwaist war. Die E-jugend der Spvgg Lindau hat Training – und die Nachwuchskicker rennen, dribbeln und passen mit Begeisterung. Die roten Gesichter verraten: Sie geben Vollgas. Endlich mal wieder.
Marian Dlugosch, Vorstandsmitglied der Spvgg Lindau, ist erleichtert, dass der Ball wieder rollt. „Es war eine heftige Zeit für Kinder und Jugendliche“, sagt er. Der Lockdown habe psychische, aber auch körperliche Folgen. Ein Zehnjähriger trainiere normalerweise zweimal in der Woche, und am Wochenende stehe ein Spiel an. „Wir reden von fünf Stunden Sport, die dauerhaft weggefallen sind.“Das bleibt nicht ohne Folgen, befürchtet auch Jörg Ammon, Präsident des Bayerischen Landessportverbandes (BLSV): „Für die Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist es daher höchste Zeit, dass wieder Sport in gewohnter Weise stattfinden kann.“
Monatelang sah es nicht danach aus. Der Sport wurde in den Lockdown geschickt. Auch als Forscher auf die geringe Ansteckungsgefahr im Freien hinwiesen, blieb Vereinssport
an der frischen Luft verboten. „Der Sport als Gesamtes hat kein Gehör gefunden“, ärgert sich Dominik Moll, Vorsitzender des TSV Lindau. „Wir waren zu wenig präsent.“
Dabei kommt den Vereinen eine wichtige Aufgabe zu. „Wir sind die, die die Kinder auffangen“, sagt Anne Thaeter. Für die Leiterin des Tanzhauses Lindau war es daher wichtig, immer da zu sein für ihre Kinder und Jugendlichen. Auch als die Turnhallen und Tanzsäle geschlossen waren und ihnen alle sozialen Kontakte weggebrochen sind. Monatelang.
Wenn der Fokus auf Kinder und Jugendliche falle, dann gehe es meist darum, was sie wegen der Pandemie in der Schule verpassen. „Aber den Kindern geht auch viel verloren, wenn sie nicht in ihren Verein gehen dürfen“, sagt Moll. Er ärgert sich, dass die Politik die soziale Komponente, die Vereinen zukomme, nicht genug auf dem Schirm habe. „Sport ist wichtig“, betont er. Was er vor allem vermisst habe: irgendeine Perspektive von der Politik, wie es weitergehen soll.
Den Lindauer Vereinen blieb nichts anderes übrig, als immer wieder neu zu improvisieren. Oberste Prämisse für das Tanzhaus war: Kontakt halten. Dafür starteten die Tänzer eine große Online-offensive. Den Kleinen schickten sie selbst aufgenommene Tanzgeschichten und Videos, zu den Größeren kamen die Lehrerinnen und Lehrer online ins Kinderzimmer. Das Tanzhaus erweiterte sogar seinen Stundenplan: Gastlehrer tanzten online mit den Kids, Yoga- und Meditationseinheiten waren auch für Nicht-mitglieder offen. Und sobald es die Inzidenz erlaubte, übten sie im Freien „bei Wind und Wetter“, so Thaeter. sagt Anne Thaeter
Online-workouts, aber auch diverse Wettbewerbe für die Jugend gab es beim TV Reutin. Hier konnten die Kinder beim Malen, Laufen, Radfahren und Biathlon ihre Fitness unter Beweis stellen, berichtet der Vorsitzende Oliver Prinz. Grußbotschaften per Video, Gruppenchats und Durchhalte-aufrufe über die sozialen Medien halfen der Spvgg, den Kontakt zu Nachwuchs und Aktiven zu halten. Auch die einzelnen Abteilungen des TSV Lindau boten verschiedene Formate an. Die Mitglieder zeigten gerade im Lockdown Interesse an ihrem Verein: „Die Abrufzahlen sind deutlich gestiegen“, sagt Moll zu der Videoansprache, mit der der Vorsitzende regelmäßig im Internet informiert. Der TSV profitiere in der Krise von seiner Online-erfahrung.
Aber online kann den persönlichen Kontakt nicht auf Dauer ersetzen. Den Spaß an der Gemeinschaft, das gemeinsame Training, den Austausch nach dem Sport. Anne Thaeter spürt „ein großes Vermissen“. Doch so sehr sich das Tanzhaus auch ins Zeug legte, es kam auch an seine Grenzen: „Die ganz Kleinen brauchen den direkten Kontakt, die müssen dich sehen“, weiß die Pädagogin. Und wenn es ihnen dann keinen Spaß mehr macht, reagieren sie „ehrlich und direkt“. Das zeigen die Zahlen: Das Tanzhaus hat in der Pandemie rund ein Drittel seiner Mitglieder verloren.
Auch der größte Sportverein in Lindau, der TSV Lindau, muss einen Rückgang hinnehmen, sagt Vorsitzender Dominik Moll. Standen vor zwei Jahren 300 Austritten 380 Eintritte gegenüber, so war die Entwicklung vergangenes Jahr deutlich negativer. Zwar verließen „nur“200 Sportler den Verein, und die vermutlich nicht mal wegen Corona. „Aber wir hatten keine Neueintritte.“
Die Lindauer Vereine sind kein Einzelfall. Der BLSV hat durch die Corona-pandemie rund 100 000 Mitglieder verloren. Im Sportbezirk Schwaben musste er einen Rückgang von 10 640 Mitgliedern hinnehmen. „Besonders besorgniserregend“sei die Entwicklung bei Kinder und Jugendlichen: von 2019 auf 2020 gibt es einen Rückgang mit 5 beziehungsweise 3,7 Prozent.
Auch beim TV Reutin gingen vereinzelt Abmeldungen ein, weil es im Lockdown kein Angebot gab. Insgesamt
liege der Schwund aber „nur bei acht bis zehn Prozent“, sagt Prinz. Noch besser steht die Spvgg Lindau da. „Wir haben bis jetzt so gut wie keine Austritte“, sagt Dlugosch, der sich über die Begeisterung der jungen Kicker nach dem Neustart freut. „Viele wollen im Training gar nicht mehr aufhören.“
Nachdem der Sport über ein halbes Jahr still stand, ging es plötzlich ganz schnell. Sport ist wieder erlaubt, bei einer Inzidenz unter 50 sogar fast ohne Einschränkungen. Das überraschte selbst die Sportler. „Der Schritt, den wir jetzt machen, der ist groß“, sagt Moll. Er freut sich auf den Neustart, weiß aber auch, dass der Grat schmal ist. Aber Moll ist sich sicher, dass die Sportler „verantwortungsvoll und vernünftig“mit der neuen Freiheit umgehen werden.
Wichtige Wettkämpfe, einmalige Chancen, geplatzte Träume: Auch wenn das Training wieder anrollt, manches ist unwiederbringlich vorbei. Doch die Sportler wollen jetzt nach vorne schauen. Dominik Moll ist davon überzeugt, dass der Vereinssport nach der Pandemie für viele an Wert gewonnen hat. Zugleich weiß er, dass es Mitglieder geben wird, die auch in Zukunft auf dem Sofa sitzen bleiben. Dieser Herausforderung will sich auch das Tanzhaus stellen. „Wir werden jetzt durchstarten“, sagt Anne Thaeter, die dem Lockdown auch etwas Positives abgewinnen kann. „Es ist nochmal eine andere Kreativität entstanden.“Jetzt freut sich die Tanzpädagogin darauf, endlich alle ihre Ideen umzusetzen. Sportler geben nicht auf.
„Wir sind die, die die Kinder auffangen“,
Was es für Lindauer Kinder und Jugendliche bedeutet, endlich wieder Sport machen zu dürfen, verraten sie in einem Video-interview unter:
schwäbische.de/kleinesportler