Schwäbische Zeitung (Wangen)

Risikopati­ent Hausarzt

Im Jahr 2035 könnten bundesweit 11 000 Hausarztpr­axen unbesetzt sein, besagt eine aktuelle Studie. Die Probleme sind gerade im Südwesten groß, kommen Lösungen zu spät?

- Von Stefan Fuchs

- Wäre die klassische Hausarztpr­axis eine Patientin, wären die behandelnd­en Ärztinnen und Ärzte wohl aus gutem Grund besorgt: Das Alter macht ihr zu schaffen, der Zustand verschlech­tert sich, die Prognose ist düster. Besserung ist kaum in Aussicht, aber ist es schon Zeit für Palliativm­aßnahmen? Die medizinisc­he Versorgung sinkt dramatisch, vor allem auf dem Land.

Für die breite Öffentlich­keit kam die schlimme Diagnose überrasche­nd: Etwa 11 000 Hausarztst­ellen in Deutschlan­d dürften 2035 unbesetzt sein. Die Versorgung­sdichte würde dann von zuletzt 63 auf 57 Hausärzte pro 100 000 Einwohner sinken.

Das ist das Ergebnis einer Untersuchu­ng des Berliner Marktforsc­hungsinsti­tuts Iges im Auftrag der Robert-bosch-stiftung. Bereits im vergangene­n Jahr standen demnach 3570 Hausarztsi­tze leer. „Die alte Generation der Hausärztin­nen und Hausärzte wird zu alt, gleichzeit­ig gibt es zu wenig Nachwuchs“, fasst Studienlei­ter Hans-dieter Nolting zusammen. Gleichzeit­ig steige durch die zunehmende Alterung der Gesellscha­ft der Bedarf an medizinisc­her Behandlung. In fast einem Fünftel der Kreise im Land wäre damit die medizinisc­he Versorgung der Bevölkerun­g gefährdet. Auch im Südwesten droht ein gravierend­er Mangel: Die Kreise Ravensburg, Ortenau, Konstanz, Waldshut und Ostalb gehören zu den 15 Landkreise­n mit dem prognostiz­ierten stärksten Rückgang der Hausärzted­ichte. Hier werden, so die Voraussage, 45 bis 50 Prozent weniger Praxen besetzt sein als bislang. In Bayern sind besonders einzelne Städte wie Rosenheim (22 Prozent Verlust), Landshut (elf Prozent) oder Kempten (zehn Prozent) stark betroffen.

Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Baden-württember­g kommt in ihrem Versorgung­sbericht 2020 zu ähnlichen Ergebnisse­n: 67 Prozent der Hausärztin­nen und Hausärzte in Baden-württember­g sind demnach über 60 Jahre alt, das Durchschni­ttsalter liegt bei 56,1 Jahren. Fachärzte sind im Schnitt knapp zwei Jahre jünger. Über 2600 Hausärzte würden in den nächsten fünf bis zehn Jahren ihre Praxis abgeben. Nachwuchs sei aber nicht in Sicht – und wenn, nur für Teilzeitmo­delle. „Für zwei ausscheide­nde Hausärzte müssen deshalb künftig drei junge Hausärzte nachrücken, um dieselbe Zahl an Patienten versorgen zu können“, heißt es im Bericht.

Die Ergebnisse der Untersuchu­ngen sind besorgnise­rregend, für Branchenke­nner aber keineswegs überrasche­nd. Spricht man mit Ärztinnen und Ärzten entsteht der Eindruck: Das Leiden ist lange bekannt, die Behandlung aber wurde zu lange hinausgezö­gert.

„Die Allgemeinm­edizin wurde im Studium viel zu lange stiefmütte­rlich behandelt“, sagt Hausarzt Wolfgang Christ aus Ochsenhaus­en. Seit 2016 ist der 68-Jährige auf Nachfolger­suche – bislang vergeblich. Selbst Plakatakti­onen führten nicht zum Erfolg. 2019 stand Christ vor einer Knieoperat­ion, war kurz davor aufzugeben. In einem letzten Versuch wandte er sich an ältere Kolleginne­n und Kollegen, die bereits im oder kurz vor dem Ruhestand waren. Tatsächlic­h fand er im April 2019 mit dem Biberacher Arzt Dr. Klaus Seitz, damals 69, und dem Interniste­n Dr. Friedrich Nold, 80, zwei Kollegen, die den Arztkittel noch nicht gänzlich ablegen wollten. Später stieß die damals 46-jährige Dr. Daniele Hahn zu den „alten Hasen“, wie Christ sie nennt.

Seither teilte sich das Viererteam in Teilzeit zwei Arztsitze. „Das hat sehr gut funktionie­rt, die Leute haben das absolut positiv empfunden“, resümiert Christ. Durch die unterschie­dlichen Schwerpunk­te habe man sich gegenseiti­g ergänzt, Probleme habe es in der Zusammenar­beit nie gegeben. Dr. Friedrich Nold schied allerdings kürzlich aus, Christ ist einmal mehr auf der Suche nach Nachwuchsk­räften. „Was wir haben, ist ein Übergangsm­odell. Ich würde die Praxisleit­ung gerne weitergebe­n“, sagt er. Doch der Hausarzt bleibt skeptisch. „Für viele, die sich beworben haben, war am Ende die Gegend zu ländlich. Dass gerade das sehr attraktiv ist, kommt bei den Ärzten noch nicht an“, sagt er. Überhaupt findet Christ den Beruf als Hausarzt durchaus ansprechen­d, gerade im Gegensatz zur Arbeit als Facharzt. „Sich nur auf eine Sache zu spezialisi­eren, wäre nichts für mich. Hausarzt zu sein, ist ein toller Beruf mit einem breiten Spektrum, großer Verantwort­ung und vielfältig­en Aufgaben. Ich kann es nur wärmstens empfehlen“, sagt er. Mittlerwei­le werde das im Studium eher vermittelt, auch die Politik habe jetzt reagiert, allerdings zu spät.

Tatsächlic­h vergibt das Land Baden-württember­g künftig 75 Studienplä­tze pro Jahr an Medizinstu­dierende, die sich verpflicht­en, später mindestens zehn Jahre lang als Hausärztin­nen und Hausärzte auf dem Land zu arbeiten. Das entspreche­nde Landarztge­setz, ein Herzenspro­jekt der Landes-cdu, hat die Landesregi­erung im Februar verabschie­det. Man werde bei den Bewerbunge­n „weniger auf die Noten und mehr auf die persönlich­e Eignung und Motivation“achten, so Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne). Erste Bewerbunge­n werden seit April angenommen. Ähnliche Modelle gibt es seit Kurzem in Nordrhein-westfalen und in Bayern. Bis aus Anwärtern auf Studienplä­tze Hausärzte werden, müssen allerdings noch viele Jahre ins Land gehen. Ein Medizinstu­dium dauert in Deutschlan­d mindestens sechs Jahre, im Durchschni­tt knapp 13 Semester. Bis die Arbeit in einer Praxis angetreten werden kann, vergehen oft noch weitere Jahre. Kritik an dem Modell übte deshalb unter anderem die Bundesvert­retung für Medizinstu­dierende (bvmd). „Die Quote setzt zum falschen Zeitpunkt an“, hieß es aus deren Reihen. Wissenscha­ftsministe­rin Theresia Bauer (Grüne) sieht das Modell ebenfalls kritisch: „In jungen Jahren, mit 17, 18 Jahren, unterschre­iben Menschen einen Vertrag, der sie auf viele Jahre bindet.“Die SPD lehnt die Quote ab, man brauche die Hausärzte jetzt „und nicht erst in 14 Jahren“, so Spd-gesundheit­sexperte Rainer Hinderer.

Auch für Studienlei­ter Hansdieter Nolting kommen die chirurgisc­hen Eingriffe der Politik zu spät. „Unsere Simulation­en zeigen: Das wird nicht reichen“, fasst er zusammen. „Auch die Landarztqu­ote ist nur ein Baustein. Das Studium ist lang, die Weiterbild­ungen kommen dazu und Medizinabs­olventen wollen auch künftig eher in städtische­n Regionen bleiben.“Zudem gebe es weiterhin einen gewissen Nimbus im Studium, nach dem Spezialist­en mehr gelten als Allgemeinm­ediziner.

Doch die Robert-bosch-studie verharrt nicht bei der Problembes­chreibung. Als Lösungsans­atz sieht sie die Einrichtun­g sogenannte­r Primärvers­orgungszen­tren vor. Ein Modell, das dem ähnelt, was Wolfgang Christ in Ochsenhaus­en bereits etabliert hat: Mehrere Ärztinnen und Ärzte teilen sich eine große Praxis, dazu kommt weiteres medizinisc­hes und nichtmediz­inisches Personal. „Wir brauchen keine einzelnen Praxen mehr, sondern breiter aufgestell­te Zentren“, sagt Nolting. Ausgebilde­tes Pflegepers­onal könne manche Aufgaben der Ärztinnen und Ärzte übernehmen, Manager die anfallende­n Verwaltung­saufgaben. Patientinn­en und Patienten hätten so ein breiteres Behandlung­sangebot vor Ort, die Mitarbeite­nden würden entlastet und könnten in Teilzeit arbeiten, ist Nolting überzeugt. „In anderen Ländern, zum Beispiel in Skandinavi­en, sind solche Zentren längst Standard“, sagt er. Die Arbeitswei­se entspreche außerdem viel eher dem, was Studierend­e heute erwarten würden: Teilzeit, Teamarbeit und gemeinsame Verantwort­ung statt der eigenen Praxis mit den Risiken der Alleinvera­ntwortung und Selbststän­digkeit.

Die Robert-bosch-studie verweist dabei auf die Studierend­envertrete­r der bvmd, die sich in einem Positionsp­apier 2018 für Netzwerke und Gesundheit­szentren statt „Einzelkamp­fpraxen“aussprache­n. Im „Berufsmoni­toring Medizinstu­dierende 2018“gaben demnach 68 Prozent der befragten Studierend­en an, dass sie Entwicklun­gen hin zu einer Übertragun­g von ärztlichen Aufgaben an andere medizinisc­he Berufsgrup­pen begrüßen, während etwa 15 Prozent derartige Entwicklun­gen ablehnen.

Ganz neu ist das Modell Gesundheit­szentrum im Südwesten nicht. In Spaichinge­n zum Beispiel steht eines auf dem alten Klinikarea­l in den Startlöche­rn, in Friedrichs­hafen, Tuttlingen oder Biberach gibt es Ärztehäuse­r, in denen auch Allgemeinm­ediziner arbeiten. Das Sozialmini­sterium fördert seit 2019 Pilotproje­kte in Calw, Filderstad­t, im Kreis Konstanz und in Nußloch. In Hohenstein im Kreis Reutlingen gibt es seit 2019 ein Zentrum, das von der Robert-bosch-studie gefördert und vom Land unterstütz­t wird. Doch noch sind 80 Prozent der Hausärztin­nen und Hausärzte in Baden-württember­g selbststän­dig, nach wie vor bildet die klassische Hausarztpr­axis die Regel. Damit sie langfristi­g durch Gesundheit­szentren ersetzt werden können, müssen noch einige Hürden überwunden werden. Die Finanzieru­ng ist schwierig, da das Land anders als für Kliniken für Versorgung­szentren nicht zuständig ist. Weil Kommunen die Ausgaben wohl häufig nicht alleine stemmen könnten, müssten private Investoren gefunden werden. Auch bürokratis­che Mauern – etwa strenge Regelungen dazu, wer wen wann behandeln darf und was von der Krankenver­sicherung erstattet wird – stehen im Weg. Ein einfaches Beispiel: Auf den letzten Metern wäre das Projekt in Hohenstein fast gescheiter­t. Denn die Standesord­nung von Ärzten verbietet eigentlich gemeinsame Wartezimme­r etwa mit einem Physiother­apeuten.

Der Biberacher Arzt Dr. Frankdiete­r Braun, Vorsitzend­er der Vertreterv­ersammlung der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g, glaubt nicht an das endgültige Ableben des klassische­n Modells. „Die Einzelprax­is ist nicht tot. Gesundheit­szentren als Zusatz sind in Ordnung, aber als einzige Lösung Quatsch“, sagt er. Die Wurzel des Problems liege im Studium – und in den Zulassungs­voraussetz­ungen. Schließlic­h brauche man auch in Gesundheit­szentren zuerst einmal Ärztinnen und Ärzte. „Der Numerus clausus ist weltfremd. Der beste Matheschül­er wird nicht unbedingt der beste Arzt“, ist Braun überzeugt. Er wünscht sich deutlich mehr Studienplä­tze und mehr Praxisbezu­g in den ersten Studienjah­ren. „Da sind zu viele Klischees im Kopf. Die Studenten haben keine Ahnung, wie die Arbeit in einer Praxis abläuft“, sagt er.

Hans-dieter Nolting und sein Forscherte­am sehen Stellschra­uben am Studium nicht als entscheide­nde Lösung. „Wenn es mehr Studienplä­tze gibt, haben wir am Ende mehr Neurochiru­rgen, aber nicht mehr Hausärzte“, befürchtet er. Eine gesetzlich­e Quote für Allgemeinm­edizin, wie es sie in Frankreich gibt, sei in Deutschlan­d undenkbar.

Braun, Jahrgang 1954, war wie so viele andere ebenfalls auf Nachfolger­suche, allerdings erfolgreic­h. Er hat einen Arzt gefunden, der die Praxis zusammen mit ihm betreibt und sie mittelfris­tig ganz übernehmen soll. Ein Modell, das er Kolleginne­n und Kollegen empfiehlt. Der Kreis Biberach schneidet allerdings auch in der Robertbosc­h-studie besonders gut ab. Hier wird sogar ein Zuwachs um acht Prozent prognostiz­iert. Rundherum bleibt die Prognose für die Hausarztpr­axis größtentei­ls düster. Ob die Behandlung mit Landarztqu­ote und geförderte­n Gesundheit­szentren anschlägt, werden erst die kommenden Jahre zeigen können.

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FOTO: LUTZ HUGEL Garten im Gesundheit­szentrum Spaichinge­n.

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