Risikopatient Hausarzt
Im Jahr 2035 könnten bundesweit 11 000 Hausarztpraxen unbesetzt sein, besagt eine aktuelle Studie. Die Probleme sind gerade im Südwesten groß, kommen Lösungen zu spät?
- Wäre die klassische Hausarztpraxis eine Patientin, wären die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wohl aus gutem Grund besorgt: Das Alter macht ihr zu schaffen, der Zustand verschlechtert sich, die Prognose ist düster. Besserung ist kaum in Aussicht, aber ist es schon Zeit für Palliativmaßnahmen? Die medizinische Versorgung sinkt dramatisch, vor allem auf dem Land.
Für die breite Öffentlichkeit kam die schlimme Diagnose überraschend: Etwa 11 000 Hausarztstellen in Deutschland dürften 2035 unbesetzt sein. Die Versorgungsdichte würde dann von zuletzt 63 auf 57 Hausärzte pro 100 000 Einwohner sinken.
Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Berliner Marktforschungsinstituts Iges im Auftrag der Robert-bosch-stiftung. Bereits im vergangenen Jahr standen demnach 3570 Hausarztsitze leer. „Die alte Generation der Hausärztinnen und Hausärzte wird zu alt, gleichzeitig gibt es zu wenig Nachwuchs“, fasst Studienleiter Hans-dieter Nolting zusammen. Gleichzeitig steige durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft der Bedarf an medizinischer Behandlung. In fast einem Fünftel der Kreise im Land wäre damit die medizinische Versorgung der Bevölkerung gefährdet. Auch im Südwesten droht ein gravierender Mangel: Die Kreise Ravensburg, Ortenau, Konstanz, Waldshut und Ostalb gehören zu den 15 Landkreisen mit dem prognostizierten stärksten Rückgang der Hausärztedichte. Hier werden, so die Voraussage, 45 bis 50 Prozent weniger Praxen besetzt sein als bislang. In Bayern sind besonders einzelne Städte wie Rosenheim (22 Prozent Verlust), Landshut (elf Prozent) oder Kempten (zehn Prozent) stark betroffen.
Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-württemberg kommt in ihrem Versorgungsbericht 2020 zu ähnlichen Ergebnissen: 67 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte in Baden-württemberg sind demnach über 60 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei 56,1 Jahren. Fachärzte sind im Schnitt knapp zwei Jahre jünger. Über 2600 Hausärzte würden in den nächsten fünf bis zehn Jahren ihre Praxis abgeben. Nachwuchs sei aber nicht in Sicht – und wenn, nur für Teilzeitmodelle. „Für zwei ausscheidende Hausärzte müssen deshalb künftig drei junge Hausärzte nachrücken, um dieselbe Zahl an Patienten versorgen zu können“, heißt es im Bericht.
Die Ergebnisse der Untersuchungen sind besorgniserregend, für Branchenkenner aber keineswegs überraschend. Spricht man mit Ärztinnen und Ärzten entsteht der Eindruck: Das Leiden ist lange bekannt, die Behandlung aber wurde zu lange hinausgezögert.
„Die Allgemeinmedizin wurde im Studium viel zu lange stiefmütterlich behandelt“, sagt Hausarzt Wolfgang Christ aus Ochsenhausen. Seit 2016 ist der 68-Jährige auf Nachfolgersuche – bislang vergeblich. Selbst Plakataktionen führten nicht zum Erfolg. 2019 stand Christ vor einer Knieoperation, war kurz davor aufzugeben. In einem letzten Versuch wandte er sich an ältere Kolleginnen und Kollegen, die bereits im oder kurz vor dem Ruhestand waren. Tatsächlich fand er im April 2019 mit dem Biberacher Arzt Dr. Klaus Seitz, damals 69, und dem Internisten Dr. Friedrich Nold, 80, zwei Kollegen, die den Arztkittel noch nicht gänzlich ablegen wollten. Später stieß die damals 46-jährige Dr. Daniele Hahn zu den „alten Hasen“, wie Christ sie nennt.
Seither teilte sich das Viererteam in Teilzeit zwei Arztsitze. „Das hat sehr gut funktioniert, die Leute haben das absolut positiv empfunden“, resümiert Christ. Durch die unterschiedlichen Schwerpunkte habe man sich gegenseitig ergänzt, Probleme habe es in der Zusammenarbeit nie gegeben. Dr. Friedrich Nold schied allerdings kürzlich aus, Christ ist einmal mehr auf der Suche nach Nachwuchskräften. „Was wir haben, ist ein Übergangsmodell. Ich würde die Praxisleitung gerne weitergeben“, sagt er. Doch der Hausarzt bleibt skeptisch. „Für viele, die sich beworben haben, war am Ende die Gegend zu ländlich. Dass gerade das sehr attraktiv ist, kommt bei den Ärzten noch nicht an“, sagt er. Überhaupt findet Christ den Beruf als Hausarzt durchaus ansprechend, gerade im Gegensatz zur Arbeit als Facharzt. „Sich nur auf eine Sache zu spezialisieren, wäre nichts für mich. Hausarzt zu sein, ist ein toller Beruf mit einem breiten Spektrum, großer Verantwortung und vielfältigen Aufgaben. Ich kann es nur wärmstens empfehlen“, sagt er. Mittlerweile werde das im Studium eher vermittelt, auch die Politik habe jetzt reagiert, allerdings zu spät.
Tatsächlich vergibt das Land Baden-württemberg künftig 75 Studienplätze pro Jahr an Medizinstudierende, die sich verpflichten, später mindestens zehn Jahre lang als Hausärztinnen und Hausärzte auf dem Land zu arbeiten. Das entsprechende Landarztgesetz, ein Herzensprojekt der Landes-cdu, hat die Landesregierung im Februar verabschiedet. Man werde bei den Bewerbungen „weniger auf die Noten und mehr auf die persönliche Eignung und Motivation“achten, so Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). Erste Bewerbungen werden seit April angenommen. Ähnliche Modelle gibt es seit Kurzem in Nordrhein-westfalen und in Bayern. Bis aus Anwärtern auf Studienplätze Hausärzte werden, müssen allerdings noch viele Jahre ins Land gehen. Ein Medizinstudium dauert in Deutschland mindestens sechs Jahre, im Durchschnitt knapp 13 Semester. Bis die Arbeit in einer Praxis angetreten werden kann, vergehen oft noch weitere Jahre. Kritik an dem Modell übte deshalb unter anderem die Bundesvertretung für Medizinstudierende (bvmd). „Die Quote setzt zum falschen Zeitpunkt an“, hieß es aus deren Reihen. Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) sieht das Modell ebenfalls kritisch: „In jungen Jahren, mit 17, 18 Jahren, unterschreiben Menschen einen Vertrag, der sie auf viele Jahre bindet.“Die SPD lehnt die Quote ab, man brauche die Hausärzte jetzt „und nicht erst in 14 Jahren“, so Spd-gesundheitsexperte Rainer Hinderer.
Auch für Studienleiter Hansdieter Nolting kommen die chirurgischen Eingriffe der Politik zu spät. „Unsere Simulationen zeigen: Das wird nicht reichen“, fasst er zusammen. „Auch die Landarztquote ist nur ein Baustein. Das Studium ist lang, die Weiterbildungen kommen dazu und Medizinabsolventen wollen auch künftig eher in städtischen Regionen bleiben.“Zudem gebe es weiterhin einen gewissen Nimbus im Studium, nach dem Spezialisten mehr gelten als Allgemeinmediziner.
Doch die Robert-bosch-studie verharrt nicht bei der Problembeschreibung. Als Lösungsansatz sieht sie die Einrichtung sogenannter Primärversorgungszentren vor. Ein Modell, das dem ähnelt, was Wolfgang Christ in Ochsenhausen bereits etabliert hat: Mehrere Ärztinnen und Ärzte teilen sich eine große Praxis, dazu kommt weiteres medizinisches und nichtmedizinisches Personal. „Wir brauchen keine einzelnen Praxen mehr, sondern breiter aufgestellte Zentren“, sagt Nolting. Ausgebildetes Pflegepersonal könne manche Aufgaben der Ärztinnen und Ärzte übernehmen, Manager die anfallenden Verwaltungsaufgaben. Patientinnen und Patienten hätten so ein breiteres Behandlungsangebot vor Ort, die Mitarbeitenden würden entlastet und könnten in Teilzeit arbeiten, ist Nolting überzeugt. „In anderen Ländern, zum Beispiel in Skandinavien, sind solche Zentren längst Standard“, sagt er. Die Arbeitsweise entspreche außerdem viel eher dem, was Studierende heute erwarten würden: Teilzeit, Teamarbeit und gemeinsame Verantwortung statt der eigenen Praxis mit den Risiken der Alleinverantwortung und Selbstständigkeit.
Die Robert-bosch-studie verweist dabei auf die Studierendenvertreter der bvmd, die sich in einem Positionspapier 2018 für Netzwerke und Gesundheitszentren statt „Einzelkampfpraxen“aussprachen. Im „Berufsmonitoring Medizinstudierende 2018“gaben demnach 68 Prozent der befragten Studierenden an, dass sie Entwicklungen hin zu einer Übertragung von ärztlichen Aufgaben an andere medizinische Berufsgruppen begrüßen, während etwa 15 Prozent derartige Entwicklungen ablehnen.
Ganz neu ist das Modell Gesundheitszentrum im Südwesten nicht. In Spaichingen zum Beispiel steht eines auf dem alten Klinikareal in den Startlöchern, in Friedrichshafen, Tuttlingen oder Biberach gibt es Ärztehäuser, in denen auch Allgemeinmediziner arbeiten. Das Sozialministerium fördert seit 2019 Pilotprojekte in Calw, Filderstadt, im Kreis Konstanz und in Nußloch. In Hohenstein im Kreis Reutlingen gibt es seit 2019 ein Zentrum, das von der Robert-bosch-studie gefördert und vom Land unterstützt wird. Doch noch sind 80 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte in Baden-württemberg selbstständig, nach wie vor bildet die klassische Hausarztpraxis die Regel. Damit sie langfristig durch Gesundheitszentren ersetzt werden können, müssen noch einige Hürden überwunden werden. Die Finanzierung ist schwierig, da das Land anders als für Kliniken für Versorgungszentren nicht zuständig ist. Weil Kommunen die Ausgaben wohl häufig nicht alleine stemmen könnten, müssten private Investoren gefunden werden. Auch bürokratische Mauern – etwa strenge Regelungen dazu, wer wen wann behandeln darf und was von der Krankenversicherung erstattet wird – stehen im Weg. Ein einfaches Beispiel: Auf den letzten Metern wäre das Projekt in Hohenstein fast gescheitert. Denn die Standesordnung von Ärzten verbietet eigentlich gemeinsame Wartezimmer etwa mit einem Physiotherapeuten.
Der Biberacher Arzt Dr. Frankdieter Braun, Vorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung, glaubt nicht an das endgültige Ableben des klassischen Modells. „Die Einzelpraxis ist nicht tot. Gesundheitszentren als Zusatz sind in Ordnung, aber als einzige Lösung Quatsch“, sagt er. Die Wurzel des Problems liege im Studium – und in den Zulassungsvoraussetzungen. Schließlich brauche man auch in Gesundheitszentren zuerst einmal Ärztinnen und Ärzte. „Der Numerus clausus ist weltfremd. Der beste Matheschüler wird nicht unbedingt der beste Arzt“, ist Braun überzeugt. Er wünscht sich deutlich mehr Studienplätze und mehr Praxisbezug in den ersten Studienjahren. „Da sind zu viele Klischees im Kopf. Die Studenten haben keine Ahnung, wie die Arbeit in einer Praxis abläuft“, sagt er.
Hans-dieter Nolting und sein Forscherteam sehen Stellschrauben am Studium nicht als entscheidende Lösung. „Wenn es mehr Studienplätze gibt, haben wir am Ende mehr Neurochirurgen, aber nicht mehr Hausärzte“, befürchtet er. Eine gesetzliche Quote für Allgemeinmedizin, wie es sie in Frankreich gibt, sei in Deutschland undenkbar.
Braun, Jahrgang 1954, war wie so viele andere ebenfalls auf Nachfolgersuche, allerdings erfolgreich. Er hat einen Arzt gefunden, der die Praxis zusammen mit ihm betreibt und sie mittelfristig ganz übernehmen soll. Ein Modell, das er Kolleginnen und Kollegen empfiehlt. Der Kreis Biberach schneidet allerdings auch in der Robertbosch-studie besonders gut ab. Hier wird sogar ein Zuwachs um acht Prozent prognostiziert. Rundherum bleibt die Prognose für die Hausarztpraxis größtenteils düster. Ob die Behandlung mit Landarztquote und geförderten Gesundheitszentren anschlägt, werden erst die kommenden Jahre zeigen können.