Abschied nicht nur in Harmonie
Auch wenn es offiziell als Arbeitsbesuch betitelt wird, de facto ist Angela Merkel natürlich auf Abschiedstour in Washington. Mehr als drei Jahre war sie nicht mehr im Weißen Haus zu Gast, nun richtet Us-präsident Joe Biden für sie und ihren Mann Joachim Sauer ein Abendessen in seinem Amtssitz aus. Das ist nicht nur eine freundliche Geste, sondern auch ein Zeichen der Wertschätzung dafür, dass die Kanzlerin international eine Führungsrolle eingenommen hat in der Zeit, in der die USA diplomatisch auf Tauchstation waren und Ex-präsident Donald Trump lieber Showtreffen mit Diktatoren veranstaltete, als sich um seine europäischen Partner zu kümmern. Dieses Dinner hat sich Merkel wahrlich hart verdient.
Mit dem Einzug Bidens ins Weiße Haus war die Zeit der Unberechenbarkeit vorbei. Der 78-jährige Präsident kehrte mit so viel Verve auf die Weltbühne zurück, dass sich manche verdattert die Augen rieben. Und er brachte neuen Schwung in das Verhältnis zu Europa und Deutschland. Das war wohltuend in einer Zeit der globalen Erschütterung infolge der Corona-pandemie. Aber auch wenn sich Ton und Umgang in den vergangenen Monaten verbessert haben: Die Konflikte zwischen Washington und Berlin wurden nicht gelöst. Vor allem das Pipeline-projekt Nord Stream 2 und die Frage, wie mit China umgehen, lasten auf dem deutschamerikanischen Verhältnis.
Merkel wird die Zeit bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft nicht mehr ausreichen, um beide Streitpunkte auszuräumen. Vielleicht will sie das auch nicht, weil die deutschen Interessen, gerade in der Wirtschaftspolitik, eben nicht identisch sind mit denen der USA. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass sie plötzlich einen härteren Kurs gegen China befürwortet, nachdem sie sich während der deutschen Euratspräsidentschaft für ein Eu-china-investitionsabkommen stark gemacht hat. Aber Merkel könnte die Gunst der Abschiedsstunde in Washington nutzen, um eine Lösung für Nord Stream 2 auszuhandeln. Dann hätte ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin wenigsten ein Päckchen weniger zu tragen.