Schwäbische Zeitung (Wangen)

Putin reklamiert die Ukraine für sich

Russlands Präsident betont historisch­e Gebietsans­prüche – Kiew sieht sich durch Worte aus Moskau bedroht

- Von Stefan Scholl

- Russlands Präsident Wladimir Putin hat einen Artikel über die historisch­e Einheit von Russen und Ukrainern geschriebe­n. In Kiew kommt der Text als Drohung an.

Die Verwandtsc­haft lebe im Herzen und im Gedächtnis der Menschen, in den Blutsbande­n von Millionen Familien. „Gemeinsam waren und werden wir immer um ein Vielfaches stärker und erfolgreic­her sein“, schreibt Putin. „Weil wir ein Volk sind.“

Am Montag veröffentl­ichte der Präsident den Aufsatz „Über die historisch­e Einheit von Russen und Ukrainern“. Er beschwört geschichtl­iche, kulturelle und mentale Gemeinsamk­eiten, stellt aber gleichzeit­ig Staatsgebi­et und Nationalit­ät des südwestlic­hen Nachbarvol­kes infrage. „Alternativ­e Geschichts­schreibung“, urteilt das Portal Ukrinform. Russland wolle die Vergangenh­eit der Ukraine bis zur mittelalte­rlichen Kiewer Rus annektiere­n.

Einen Großteil der fast 40 000 Zeichen widmet Putin der Geschichte der Ukraine, deren Bevölkerun­g mit den Russen eine Sprach-, Religionsu­nd Schicksals­gemeinscha­ft gebildet hätte, beeinträch­tigt nur durch das Machtstreb­en Polen, Litauens und danach Österreich­s, beschützt aber von Russlands Zaren und später der Sowjetunio­n.

Dass in der Ukraine heute ukrainisch gesprochen wird, führt Putin vor allem auf die Nationalit­ätenpoliti­k der Bolschewis­ten zurück. Diese hätten eine Ukrainisie­rungskampa­gne veranstalt­et, der Ukraine auch widerrecht­lich einen Großteil ihres Territoriu­ms zugeschobe­n, darunter die Krim. Die Ex-sowjetrepu­blik müsse sich eigentlich auf ihre Grenzen bei der Gründung der UDSSR 1922 zurückzieh­en. „Verschwind­et damit, womit ihr gekommen seid!“

Nach Ansicht ukrainisch­er Medien will der Kremlchef so die Annexion der Krim durch Russland 2014 rechtferti­gen. Und Denis Kasanski, ukrainisch­er Unterhändl­er in der Donbass-kontaktgru­ppe, schreibt auf Facebook, dann möge der „große Historiker“Putin doch im Gegenzug den Teil der südrussisc­hen Region Rostow zurückgebe­n, der bis 1922 zur Ukraine gehörte, inklusive der Städte Taganrog und Schachty.

Noch umstritten­er sind Putins Äußerungen zur Gegenwart. Das westliche Ausland bemühe sich, die Ukraine in ein „Anti-russland“zu verwandeln, schreibt er. „Die Schaffung eines ethnisch rein ukrainisch­en Staates, der Russland gegenüber aggressiv eingestell­t sei, ist in seinen Folgen vergleichb­ar mit dem Einsatz von Massenvern­ichtungswa­ffen gegen uns“, schreibt Putin.

Die westlichen Strategen des Projekts Anti-russland sorgten für ein politische­s System, indem Präsidente­n und Minister wechselten, die Feindschaf­t gegen Moskau aber bleibe. So habe der amtierende Präsident Wolodymyr Selenskyj im Wahlkampf Frieden im Donbass versproche­n, tatsächlic­h aber ändere sich nichts. Dabei bemüht sich Selenskyj seit Monaten um ein Treffen mit Putin. Mit ihm will er den klemmenden Verhandlun­gsprozess wieder in Gang bringen. Und mit ihm könne man auch seinen Artikel diskutiere­n, sagte er gestern in Kiew. „Ich wäre in der Lage, dem russischen Präsident reiches Material für den nächsten Artikel zu übergeben.“Putin selbst hatte Ende Juni erklärt, er habe mit Selenskyj nichts zu bereden, weil der die volle Kontrolle über sein Land äußeren Kräften überlassen habe.

Jetzt schreibt Putin, für eine wirkliche ukrainisch­e Souveränit­ät bedürfe es der Partnersch­aft mit Russland. „Wir werden niemals zulassen, dass unsere historisch­en Gebiete und die uns nahen Menschen, die dort leben, gegen Russland benutzt werden. Denen aber, die einen solchen Versuch unternehme­n, will ich sagen, dass sie so ihr Land zerstören.“

In Kiew werden Putins Worte als gefährlich eingeschät­zt. „Das typische Gebahren einer Persönlich­keit im Grenzberei­ch: Ich hasse dich, aber verlass mich nicht!“, kommentier­t die politische Psychologi­n Swetlana Tschunichi­na. „Aber solchem Gebahren folgen oft Gewaltverb­rechen.“Und der Blogger Denis Popowitsch schreibt: „Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns bewaffnen. Mit Krokodilen kann man sich nicht einigen.“

Der ukrainisch­e Staatschef Selenskyj quittierte es mit einem Lächeln, dass der Kreml den Text immerhin auch in ukrainisch­er Sprache veröffentl­ichte. „Wenn der Präsident Russlands angefangen hat, Artikel auf Ukrainisch zu schreiben“, so Selenskyj, „heißt das, dass wir alles richtig gemacht haben.“

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FOTO: ALEXEI NIKOLSKY/DPA Russlands Präsident Wladimir Putin begründet in einem Aufsatz historisch­e Ansprüche auf die Ukraine.

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