„In der Bundesliga herrscht die Strafraumpolizei“
Ex-schiedsrichter Bernd Heynemann über die EM, die Abschaffung der Altersgrenze sowie Kung-fu-kahn
- Bernd Heynemann hat von der Ddr-oberliga über die Bundesliga bis zur Weltmeisterschaft alles gepfiffen. Die Leistungen seiner Kollegen bei der EM lobt der Ex-schiedsrichter mit einer Ausnahme, die ihn mächtig stört. Auch sonst sieht der 67-Jährige Entwicklungspotenzial in seinem Metier – vor allem in Bezug auf die Altersgrenze, die auch den gebürtigen Magdeburger einst zum Karriereende zwang. Felix Alex hat mit ihm gesprochen.
Herr Heynemann, die EM ist zu Ende. Vier Wochen, in denen die Schiedsrichter nicht aufgrund von krassen Fehlentscheidungen im Fokus standen, selbst das Finale im Wembleystadion kam ohne Aufreger aus, alles perfekt also?
Moment, also eine klare Fehlentscheidung gab es mindestens: der Elfmeter für England im Halbfinale gegen Dänemark. Ich habe vorher noch die Videoschiedsrichterzentrale in Nyon gelobt, aber wenn Millionen ausgeben und viele Leute eingebunden werden und es dennoch solche Entscheidungen gibt, dann brauchen wir keinen Videokeller mehr. Aber bis auf diese Ausnahme muss man den Schiedsrichtern eine sehr gute Leistung bescheinigen.
Blicken wir auf die Em-bilder, die bleiben. Zu Beginn direkt das Drama um Christian Eriksen. Was kann ein Unparteiischer in dieser Situation überhaupt machen?
Als Schiedsrichter kann man in solcher Situation nur abwarten, wie die Mannschaftsärzte entscheiden und was im Anschluss der Delegierte der UEFA vorgibt und natürlich ob die Dänen zum Beispiel sagen, dass sie nicht weiterspielen können. Mehr bleibt da nicht. Wenn der Schiedsrichter selber zu emotional berührt ist und nicht weiterspielen möchte, obwohl die Mannschaften wollen, dann kann er natürlich für sich sagen: ,Ich mache hier nicht weiter’. Es sind immer vierte Offizielle da, auch ein Ersatzschiedsrichter, dann muss ein anderer übernehmen.
Im Finale gab es das eindrückliche Trikotzerren des Routiniers Chiellini, wegen dem ein England-fan jetzt sogar eine Petition (schon 93 000 Unterschriften) zur Finalwiederholung gestartet hat. Er meinte, es wäre rot gewesen.
Das war absolut keine Notbremse, sondern, ein klassisches Textilfoul. Darauf haben sie schon 1998 vor meiner WM hingewiesen. Er hält ihn am Kragen fest, er hätte ihn aber auch am Arm festhalten können oder sonst etwas. Das ist eine Gelbe Karte, ein taktisches Foul. Aber das Bild hatte natürlich einen gewissen Charme und sah eindrücklich aus.
Wo wir bei den deutschen Referees Felix Brych und Daniel Siebert wären. Beide ein Beleg für das Niveau des Schiedsrichterwesens, oder?
Wer wie Brych fünf Spiele bei einer EM bekommt, der muss alles richtig gemacht haben. Sie haben beide die deutschen Farben generell gut vertreten – im Gegensatz zur deutschen Mannschaft.
In die EM platzte das Interview von Manuel Gräfe (47), Schiedsrichter außer Dienst, in dem er ankündigt, den DFB aufgrund von Altersdiskriminierung zu verklagen, ein überfälliger Schritt?
An die Klage hänge ich mich direkt an (lacht.) Spaß. Manuel Gräfe sagt ja selber, dass er weiß, dass er nicht wieder auf den Rasen zurückkehren wird, aber es geht ihm eben ums Geld, wenn er sagt, er holt noch ein paar Euros raus, dann ist das sein Problem. Grundsätzlich muss man aber darüber nachdenken, diese Altersgrenzen in allen Ebenen durchlässiger zu machen. Das ist ja keine Geschichte, die nur die Profischiedsrichter betrifft, sondern da geht die Pyramide ja bis nach unten. Wenn etwa ein 19-Jähriger anfängt zu pfeifen und man ihm sagt, ’Höher als Bezirksliga kannst nicht mehr kommen’ oder ein Ex-profi sich mit 22 schwer verletzt und dann Bundesligaschiedsrichter werden will, das aber nicht mehr geht, dann sind beide gleich erstmal desillusioniert. Denn wenn man nicht spätestens mit 25 Jahren in der 2. Liga ist, wird man derzeit ,aussortiert’. Das meine ich mit Alterslimite. Dabei haben wir ja auch noch heute Fußballer, die sehr schnell den Sprung vom Amateurbereich in die Bundesliga schaffen. Es muss nun einen ganz neuen Ansatz geben. Alles andere ist Quatsch. Björn Kuipers hat mit 48 jetzt das Em-finale gepfiffen, obwohl die Altersgrenze der FIFA für Internationale Partien eigentlich bei 45 liegt.
Wenn die FIFA Ausnahmen zulässt, könnte es auch die Bundesliga ... Eben. Wenn Zlatan Ibrahimovic gesund gewesen wäre, hätte auch niemand gesagt, du bist 39, du bist zu alt und darfst die EM nicht spielen. Das ist nun mal das Leistungsprinzip. Der eine 70-Jährige kann die 100 Meter eben in 15 Sekunden laufen und der andere schafft es schon mit 35 nicht mehr. Aber nur jemanden zum Aufhören zu drängen, weil im Ausweis ein Datum steht, das ist überholt. Wenn man sagt, die Leistung zählt, die Gesundheit, der erfolgreiche Athletiktest, dann muss man über die Abschaffung der Grenze mit 47 nachdenken. Im Fall Gräfe wird es aber nicht nur am Alter liegen, da gibt es intern ein paar Querelen.
Gräfe hat Vorwürfe gebracht, die es seit über einem Jahrzehnt gibt. Ähnlich wie bei anderen Dfb-führungn scheinen Seilschaften nur schwer durchbrochen zu werden. Sie kennen doch den Fisch und wissen, wo er anfängt zu stinken. Das ist nicht nur auf das Schiedsrichterwesen bezogen, sondern auch auf die Nationalmannschaft als erste Mannschaft im DFB. Das ist ein Spiegelbild der ganzen Führungsriege. Irgendwie
stimmen die Proportionen im DFB nicht mehr.
Wenn die Altersgrenze fällt, sind ihre 67 Lenze ja auch nur noch eine Zahl. Oder ist das nicht mehr Ihre Welt? Stichwort neue Kritikfaktoren wie der von Ihnen bereits angesprochene Videobeweis (VAR). Gott bewahre, ich spiele noch etwas alte Herren und gucke es mir von außen an. Die anfänglichen Jahre des VAR in der Bundesliga waren wirklich schwierig. Alles wurde zu kleinlich ausgelegt. Ähnlich wie jetzt der Elfmeter im Em-halbfinale. Ja, da war ein Kontakt, aber ein Kontakt ist ja nicht gleichbedeutend mit einer Aktion, die ursächlich war, dass jemand umgefallen ist. Zweikampf heißt ja „Zwei-kampf“. Dass sich da Leute mit den Schultern berühren oder ähnliches, ist doch normal. Bei der EM war bis auf diese eine Geschichte, die wirklich sauer aufstößt, aber vieles vorbildlich. Die Assistenten an den Bildschirmen haben sich total zurückgehalten und so sollte es sein – eine Hilfe für den Schiedsrichter. In der Bundesliga herrscht aber derzeit noch die Strafraumpolizei.
Superzeitlupen, Vergrößerungen, Standbild, irgendwas findet man da schließlich immer oder?
Wenn Sie auf dem Feld stehen, sehen sie eine Situation ja dreidimensional und in der Zeitlupe eben nur zweidimensional, die Tiefe fehlt. Wenn man noch die Superzeitlupe auspackt, dann verzerrt das häufig. Diese Bilder können nur eine Kontrolle, eine Unterstützung sein, nie ein Beweis. Aus dem Keller sollte daher mehr unorthodox entschieden werden. Am wichtigstens ist aber, dass die Schiedsrichter den Mut haben, sich bei strittigen Szenen alles noch einmal auf dem Monitor anzusehen. Bisher wird sich zu sehr auf den Keller verlassen. Die Souveränität muss wieder allein auf dem Platz liegen.
Sie standen beim legendären Spiel FC Bayern gegen Dortmund 1999 auf dem Rasen als Oliver Kahn zum Kung-fu-kahn wurde und bei Heiko Herrlich auf Tüchfühlung ging, selbst da blieben sie souverän. Das war so ein hitziges Spiel mit Elfmeter und Rote Karte. Das Knabbern bei Heiko Herrlich von Kahn habe ich gar nicht so wahrgenommen. Bei der Kung Fu-szene muss ich einiges klarstellen, was noch heute oft vergessen wird. Es war ja so, dass ein Angriff kam und ich Abseits gepfiffen habe. Kahn hatte den Ball ja dann gefangen und sich unter den Arm geklemmt. Er muss sich dann aber so über seine Abwehr geärgert haben, die wieder gepennt hatte, dass er gegen Chapuisat diesen Kung-fuschritt macht. Wenn Sie die Szene von der Seite, in den üblichen Tvbildern sehen, dann denken Sie, der Tritt ihm den Kopf ab. Nur der NDR hat es damals auch von hinten gezeigt. Da sah man, dass da drei Meter zwischen den beiden lagen. Es stellte sich bei mir also die Frage, ob man für einen Luft-kung-fu-tritt während einer Spielunterbrechung die Gelb-rote Karte zeigt? Das habe ich nicht und so ging es einfach weiter.
Jetzt steht Kahn als gesitteter Funktionär an der Seitenlinie, schwer vorstellbar oder? Eigentlich nicht, er hat sich ja über die Jahre weiterentwickelt. Als Ausbilder von Torhütern in China, später als Leiter von Firmen mit Menschenführung, dann als Analyst und Tv-experte und deshalb ist es eine sehr gute Entscheidung.
Wünschen Sie sich denn, dass die Dominanz des FC Bayern München mit neun Meisterschaften in Folge gebrochen wird, auch auf die Gefahr hin, Kahn zu verärgern?
Die Bayern wollen ja selber immer Konkurrenz haben, damit sie sich nicht nur international, sondern auch national präsentieren können. Wenn sie in der Bundesliga mehr gefordert wären, dann wären sie auch besser auf die internationalen Spiele vorbereitet. Es wäre also gut für alle: die Fans, die Liga und Bayern selbst.
Wie sieht es denn mit Bernd Heynemann als Fan aus, würde der sich über einen anderen Meister freuen?
Nö, wenn es spannend ist und der Meister erst drei und nicht schon sieben oder acht Spieltage vor Schluss feststeht, dann wäre es ja schon etwas. Ich bin ja generell einfach Fan der Bundesliga.