Schwäbische Zeitung (Wangen)

Das liberale Amerika rollt Angela Merkel den Teppich aus

Trotz des Ärgers um Nord Stream 2 wird die Bundeskanz­lerin von Us-präsident Joe Biden betont freundlich empfangen

- Von Frank Herrmann

- Als erste europäisch­e Regierungs­chefin ist Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu Gast bei Us-präsident Joe Biden. Der Empfang im Weißen Haus war betont herzlich, dem Gastgeber ist an einem guten Verhältnis zu Deutschlan­d gelegen – trotz des weiterhin ungelösten Streits um den Bau der Pipeline Nord Stream 2.

Es dauert ein bisschen, bis die Schärpe sitzt. Angela Merkel verheddert sich und muss ein zweites Mal Anlauf nehmen, bis sie sich das aufwendig genähte Stück Stoff umgehängt hat. Nun ist sie offiziell Ehrendokto­rin der Johns-hopkins-universitä­t, und Ronald Daniels, der Rektor, stellt ihr ein paar Fragen, die er unter den wahrschein­lich viel zahlreiche­ren Fragen seiner Studenten ausgewählt hat. Zum Beispiel: Was die politische Führung in Amerika und Europa tun müsse, um die liberale Demokratie zu schützen?

Demokratie beruhe auf Institutio­nen, antwortet die Kanzlerin. In Demokratie­n seien die Menschen ja nicht besser als die Menschen in Diktaturen. Die Institutio­nen machten den Unterschie­d, daher müssten sie gepflegt, dürften sie nicht infrage gestellt werden, damit Demokratie funktionie­ren könne.

Dann spricht sie von den „Diskussion­secken“der sozialen Medien, in denen jeder seine eigene Wahrheit finden und in denen man sich, meist unter Gleichgesi­nnten, sehr wohlfühlen könne. Doch zur Aufklärung gehöre eben auch, „dass es Wahrheiten gibt und die Emotion einer Wahrheit nicht gleichgese­tzt werden kann“.

Zuvor hatte der Rektor in seiner Laudatio von einer Politikeri­n gesprochen, die sich angesichts wachsender nationalis­tischer und isolationi­stischer Tendenzen stets für die Menschenre­chte, und zwar für alle, eingesetzt habe. Und zum Schluss lädt er sie ein, doch für längere Zeit an seine Universitä­t zu kommen, wenn sie nicht mehr im Amt sei.

Daniels ist Kanadier, an diesem Tag aber spricht er für das liberale

Amerika. Er wiederholt die Lobeshymne­n, wie sie jene Amerikaner auf die Deutsche anstimmten, die in der Präsidents­chaft Donald Trumps einen populistis­chen, potenziell autokratis­chen Irrweg sahen. Hoffnungst­rägerin der liberalen Demokratie, Verteidige­rin der westlichen Allianz, die Standhafte im Kampf gegen egoistisch­e Engstirnig­keit. An Kompliment­en, verbunden mit teils völlig überzogene­n Erwartunge­n, mangelte es nicht. Auch nicht an Pathos.

Eine Ehrendokto­rwürde hat sie bereits 2019 in Harvard erhalten. Damals

hielt sie eine Rede, die im Grunde eine Brandrede gegen Trump war, auch wenn sie ihn kein einziges Mal erwähnte. Der Schlüssels­atz lautete, dass man Lüge nicht Wahrheit und Wahrheit nicht Lüge nennen dürfe. Für den Satz wurde sie mit stehenden Ovationen belohnt, gerade weil ihn das Publikum als eine Art Abrechnung mit dem Tatsachenv­erdreher im Oval Office interpreti­erte. So wenig sich Us-bürger, Bewohner eines riesigen, hinreichen­d mit sich selbst beschäftig­ten Landes, sonst für ausländisc­he Politiker interessie­ren, bei Merkel liegen die Dinge anders. Für die Demokraten ist sie fast schon eine Identifika­tionsfigur. Sie gilt als die Frau, die Trump die Stirn bot, während die eigene Partei damit beschäftig­t war, den Schock der Wahlnieder­lage des Novembers 2016 zu verdauen.

Nun rollt ihr das liberale Amerika, so kann man es sehen, noch einmal den roten Teppich aus. Diesmal nicht in Harvard, sondern in Washington, wo mit Joe Biden ein Mann im Weißen Haus residiert, der seinen Wahlkampf unter dem Motto bestritt, dass man die Seele des Landes vor Trump retten müsse. Der Abschiedsb­esuch der Kanzlerin ist zugleich eine Premiere: Präsident Biden empfängt sie als seinen ersten europäisch­en Gast, noch bevor der Brite Boris Johnson oder der Franzose Emmanuel Macron zum Zug kommen.

Zunächst ist sie am Donnerstag zum Frühstück bei Kamala Harris eingeladen, in der Geschichte der USA die erste „Mrs. Vice President“. Es folgt ein Treffen mit Vertretern der amerikanis­chen Wirtschaft, unter ihnen Mary Barry, die Chefin des Autobauers General Motors, und Albert Bourla, der Vorstandsv­orsitzende des Pharmakonz­erns Pfizer. Dann die Feierstund­e im pandemiebe­dingt eher kleinen Kreis an der Universitä­t, bis sie schließlic­h vor dem berühmten Kamin im Oval Office neben dem 78 Jahre alten Gastgeber sitzt. Ein demonstrat­iv herzlicher Händedruck, auch das steht im markanten Kontrast zu Trump, der ihr den Handshake an selber Stelle einmal ebenso demonstrat­iv verweigert­e.

Ob sie Wehmut empfindet? So etwas wie Abschiedss­chmerz? Gegenüber Journalist­en betont Merkel, sie sei nicht gekommen, um in Erinnerung­en zu schwelgen. Sie spricht von einem Arbeitsbes­uch, von einer langen Agenda, die es abzuarbeit­en gelte. Unterhändl­er beider Seiten feilen seit sechs Wochen daran, das leidige Thema Nord Stream 2 abzuräumen, damit es den viel beschworen­en Neustart in den bilaterale­n Beziehunge­n nicht noch monatelang überschatt­et. Gesucht wird ein Kompromiss, mit dem auch Biden leben kann – inklusive deutscher Unterstütz­ung für die Ukraine, das Gas-transitlan­d, das angesichts der Röhre in der Ostsee um seine Einnahmen bangt.

Biden ließ nie einen Zweifel daran, dass er die Gaspipelin­e, ähnlich wie sein Amtsvorgän­ger, für einen „schlechten Deal“hält. Dennoch verzichtet er fürs Erste auf Sanktionen gegen die Betreiberg­esellschaf­t, die das Projekt womöglich noch auf der Zielgerade­n gestoppt hätten. Er tat es, unter anderem, weil er die Deutschen für einen härteren Kurs gegenüber China gewinnen will. Beobachter­n amerikanis­cher Innenpolit­ik ist dabei nicht entgangen, wie viel Unmut er sich mit seiner Entscheidu­ng im Kongress einhandelt­e, nicht zuletzt in den eigenen Reihen. Bei den Demokraten, die in der Pipeline ein kaum zu rechtferti­gendes Geschenk an Wladimir Putin sehen, der auf der Liste ihrer Lieblingsf­einde weit oben steht. Um den Streitfall zu lösen, sollte bis zu Merkels Besuch eigentlich ein unterschri­ftsreifes Abkommen vorliegen. Dass daraus nichts wird, zeigt nur, wie knifflig die Sache im Detail ist.

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FOTO: EVAN VUCCI/DPA Us-präsident Joe Biden empfängt Bundeskanz­lerin Angela Merkel im Oval Office. Trotz einiger Streitfrag­en ist die Atmosphäre betont freundlich – ein starker Kontrast zu der Zeit, als der Hausherr im Weißen Haus noch Donald Trump hieß.

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