Demenz-theaterstück hinterlässt Wechselbad der Gefühle
Warum das Zwei-personen-stück „Ich erinnere mich genau“so manchen im Publikum zu Tränen rührt
- Die Hospizgruppe Kißlegg hatte am Freitag in die Schulmensa zu einer bewegenden Geschichte einer Mutter-tochter-beziehung eingeladen. Im Zwei-personen-stück „Ich erinnere mich genau“von Brian Lausund, unter der Regie von Sebastian Goller spielte Christine Reitmeier die an Demenz erkrankte Martha und Liza Sarah Riemann ihre Tochter Hannah. Die Zuschauer erlebten ein Wechselbad der Gefühle.
Am Rande der Bühne Tisch und Stuhl, die später die Küche darstellen werden, in der Mitte die Möbel für ein Wohnzimmer. Als Blickfang dient eine Stehlampe, die an die 1950er-jahre erinnert. Wobei das Publikum bereits vor Spielbeginn mit seinen Gedanken da angelangt ist, was zum Eingangsthema der über einstündigen Aufführungen werden wird: Erinnerungen, die im Dialog zwischen Mutter und Tochter noch nicht verschüttet sind. Die ersten Anzeichen der Demenz sind dennoch nicht mehr zu übersehen. Aus einer anfänglichen Vermutung wird nach und nach eine medizinische Diagnose. Der „Halbgott in Weiß“hat der Tochter neben dem Ratschlag, „nicht zu verzweifeln“, die Broschüre eines Pflegeheims in die Hand gedrückt. Doch Hannah will die Mutter nicht abschieben. Sie ist fest entschlossen, deren Pflege zu übernehmen. „Das bin ich ihr schuldig“, sagt sie und denkt dabei an die „letzten würdevollen und friedlichen Jahre“, die sie der alten Dame bereiten wird.
Bald schon zeigt sich, dass das alles nicht einfach werden wird. Weder für Hannah, die Beruf und Privatleben nun hinten anstellen muss, als auch für Martha, die Probleme damit hat, sich helfen zu lassen. „Lieber Gott“, fleht sie, „du hast doch eine starke und stolze Frau aus mir gemacht. Das bin doch nicht ich, die den Hauseingang nicht mehr finden kann!“Und auch dies hält sie dem lieben Gott hin: „Ich bin doch ihre Mutter. Du weißt, dass das nicht geht. Kein Kind sollte die eigene Mutter füttern.“Der Kloß im Hals der Zuschauer ist nicht sichtbar, verschafft sich aber durch eine atemlose Stille im Saal seinen Raum. Alles Flehen hilft nichts. Aus der starken, selbstbewussten Martha wird eine schwache alte Frau. Die ersten Anzeichen der Demenzerkrankung erleben Hannah und ihre Mutter noch auf humorvolle Weise. Alte Geschichten aus Mamas wilder Jugend kommen hervor: Geschichten vom verwegenen Räuber Hotzenplotz, der eigentlich „Dieter“hieß und Martha in jungen Jahren den Kopf verdreht hat. Immer wieder werden die alten Fotos hervorgekramt, bis sie irgendwann zeitlich nicht mehr zugeordnet werden können. Was zuletzt bleibt, sind die alten Kinderlieder. Hannah wandelt zwischen Mitgefühl, Verzweiflung und auch Wut, die aber nicht der Mutter, sondern der Krankheit gilt. Dann nämlich, wenn die Mutter in der eigenen Wohnung steht und aggressiv danach fragt, wann es endlich wieder nach Hause geht. Oder wann endlich Ehemann Max gedenkt, zurückzukehren. Aber der ist schon lange verstorben. Beschimpfungen werden laut. Hannah flüchtet immer häufiger in die Küche, um sich hier bei einem oder auch zwei Gläsern Wein Luft zu verschaffen. „Ich schrie sie an und sie schlug auf mich ein“, ist da unter Schluchzen von ihr zu erfahren ist. Wie die verzweifelten Sätze fallen: „Wir haben alle Angst vor der Krankheit. Weil sie uns zerstört und auch die Angehörigen verändert. Weil sie mich verändert!“
Szenenwechsel. Martha liegt im Krankenhaus. „Guten Abend, gute Nacht“summt sie leise vor sich hin. Morphium dämpft ihre Schmerzen. Hannah sitzt neben ihr, hält ihre Hand. Hat die Mutter wirklich ganz zart über das Haar der Tochter gestreichelt? Als Zuschauer wünscht man es so sehr! Denn es geht zu Ende. Nur noch ein Atemzug, noch einer – und dann keiner mehr. Doch, und das ist das Tröstliche, Marthas
Geschichten werden bleiben. Das verspricht Hannah am Totenbett: „Keine Angst, Mama. Ich erinnere mich genau.“Als das Licht wieder angeht, brandet Applaus auf.
Applaus für zwei Schauspielerinnen, die ihre in der Tat schwierigen Rollen mit so viel Einfühlungsvermögen spielen, dass allein schon diese große Darstellungskraft zu Tränen rührt. Der Heimweg wird im Wissen um das erlebte Wechselbad der Gefühle angetreten.