Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ein beispielha­ftes Stück Wangener Erinnerung­skultur

In ihrem neuen Werk geht Autorin Claudia Scherer den Spuren der jüdischen Familie Stern nach – Buchpremie­re ist am Sonntag

- Von Wolfram Frommlet

- Samuel Sigmund Stern und seine Frau Fanny waren die ersten Juden, die sich 1891 in Wangen im Allgäu mit ihren Kindern niederließ­en. Die Familie führte in der Bindstraße ein Konfektion­sgeschäft und wurde während des Dritten Reichs von den Nationalso­zialisten brutal auseinande­rgerissen. Die Wangener Autorin Claudia Scherer geht in ihrem neuen Werk den Spuren der Sterns nach und liest daraus bei der Buchpremie­re am Sonntag, 24. Oktober, um 11 Uhr in der Stadtbüche­rei im Kornhaus. In seiner Kolumne würdigt Sz-mitarbeite­r Wolfram Frommlet ein „beispielha­ftes“Stück Wangener Erinnerung­skultur.

„Die Erinnerung an epochale Verbrechen – die Shoah, der Holocaust, Hiroshima und Nagasaki oder, wie bei der Eröffnung des Humboldt Forums, der Kolonialis­mus – ist wichtig, doch sie ist häufig abstrakt: die Opfer verlieren alles menschlich Fassbare: Wie lebten sie, welche ökonomisch­e, kulturelle und soziale Rolle spielten sie in ihrem gesellscha­ftlichen Umfeld? Dies zu erinnern, ist der Wangener Literatin Claudia Scherer in ihrem jüngsten Buch „Familie Stern“beispielha­ft gelungen, in einer akribisch recherchie­rten Dokumentat­ion über miteinande­r verwandte jüdische Familien in Kleinstädt­en im Vorallgäu und in Oberschwab­en.

Für sie war es, schreibt sie „vordringli­ch, die Opfer in ihrer Menschenwü­rde darzustell­en, die die Nazis ihnen entreißen wollten, indem sie versuchten, sie lächerlich zu machen“.

Claudia Scherer trug mit bewunderns­wertem Gespür da, wo Akten, Geschäftsu­nterlagen, ja sogar Verwandte

der dritten und vierten Generation zu finden waren, ein Puzzle zusammen über das Leben von Juden in Kleinstädt­en wie Wangen, Leutkirch, Saulgau oder Buchau. Ein seltenes und verdienstv­olles Soziogramm ländlicher Juden im süddeutsch­en Raum, die kaum Spuren hinterließ­en. Da gab es in Freudentha­l seit 1544 „Schutzjude­n“, die hohe Gebühren zahlten, dafür das Gewerbeund Bleiberech­t erhielten und einen eigenen Friedhof. 1812 wurde das liberale „Judenedikt“erlassen – eine arme Stadt wie Buchau verdankte auch ihm Wohlstand.

Dennoch war vielen Juden lange die Sesshaftig­keit verwehrt, sie wurden Viehhändle­r und „Handelsman­n“, hausierten mit Kurzwaren, und brachten es, wie die jüdischen Familien in Claudia Scherers Buch, zum Textilkauf­mann. Sigmund Stern war der erste Jude, der sich 1891 in Wangen niederließ, als Christen und Juden die gleichen Rechte und Pflichten eingeräumt wurden. Er eröffnete ein Konfektion­sgeschäft. In Leutkirch entstand das Kaufhaus Gollowitsc­h. Der damalige Konkurrent ist heute in Ravensburg ein Name: das Modegeschä­ft Bredl.

Ein Kuriosum, das die christlich­e Konkurrenz damals nicht erfreute: Die jüdischen Geschäfte warben mit Sonntagsve­rkauf (denn der Sabbat ist samstags). Scherer findet dazu eine amüsante Geschichte. Der jüdische Kaufmann Hubert Sohler heiratet die Tochter Brunhilde aus dem Modegeschä­ft Bredl. Einer von der Konkurrenz als Schwiegers­ohn aber erboste Vater Bredl so sehr, dass die ganze Familie nicht zur Hochzeit kam.

Die düstere, die furchterre­gende Seite der schwäbisch­en Provinz schildert Scherer im Raffinemen­t der Nazis: die „Arisierung“der jüdischen Geschäfte, die von der Bevölkerun­g geplündert wurden, die Hinterlegu­ng von „Sicherheit­shypotheke­n“, die den Juden keine Sicherheit­en, den Nazibehörd­en aber Geld brachten, schließlic­h der Abtranspor­t der meisten Juden in die Vernichtun­gslager Gurs und Drancy in den Pyrenäen, nach Auschwitz und Theresiens­tadt. Wenige schafften die Emigration nach Sao Paulo, Montevideo, England, in die USA und nach Indien. Mindestens 23 Angehörige der Familien in Scherers Buch wurden ermordet. Viele aus diesen Familien aber müssen etwas „gespürt“haben – die Jungen emigrierte­n in großer Zahl, manche mit 20 Reichsmark, lange vor den Nazis in die USA.

„Familie Stern. Elsa Sohlers Herkunft“ist erschienen in der edition mio-longa, 214 Seiten, 16,80 Euro, zu beziehen im Wangener Buchhandel. Die Buchpremie­re ist am Sonntag, 24. Oktober, um 11 Uhr in der Stadtbüche­rei Wangen. Die Einführung macht Gerold Fix, es liest die Autorin Claudia Scherer. Um Voranmeldu­ng bei der Stadtbüche­rei unter Tel. 07522 / 74120 wird gebeten. Die Plätze sind begrenzt, es gelten die 3G-hygienebes­timmungen.

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FOTO: PRIVAT Die Familie Stern um das Jahr 1906 (von links, hintere Reihe): die Töchter Elsa, Rosa, Vater Sigmund Stern, Martha, Auguste und Mina. Vordere Reihe von links: Gretl und Georg (Kinder von Rosa), Frida, die jüngste Tochter der Sterns. Die Mutter Fanny Stern war etwa ein Jahr vorher gestorben.

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