Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Krimi-autorin geht fremd

Schriftste­llerin Nicola Förg schlägt in „Hintertris­terweiher“ein neues Kapitel auf

- Von Michael Dumler

- „Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt, und weil er schwärmt und glaubt, sich anlehnt und vertraut“, singt Herbert Grönemeyer in „Mensch“. Das Vergessen und Verdrängen kann wichtig, lebensnotw­endig sein für Menschen, die Schlimmes erlebt haben. Wie das Schweigen darüber. Doch dies belastet oft auch die Nachfolgen­den, vor allem wenn der Tod eine Brücke einreißt, ein Nachfragen nicht mehr möglich macht. Nicola Förg ist es während des Corona-lockdowns ähnlich ergangen. Zum Nichtstun verdammt räumte die Allgäuer Bestseller­autorin ihr Büro auf und stieß dabei auf alte Fotos ihres Vaters. Diese setzten etwas in ihr in Gang – und führten zu einem neuen Buch-projekt. „Hintertris­terweiher“ist der Titel des Romans, mit dem Förg ein neues schriftste­llerisches Kapitel aufschlägt – fern der gewohnten Genres Krimi und Reiseerzäh­lung.

Ganze 80 Jahre – von 1940 bis heute – umspannt der Roman, der an der französisc­hen Atlantikkü­ste spielt, aber auch ins unterfränk­ische Ochsenfurt und nach München führt, vor allem aber an einem fiktiven Moorweiher bei Oberstaufe­n spielt. In dem Schrothkur­ort hatte Nicola Förg die ersten Kinderjahr­e verbracht. Der Vater, der schon 50 war, als sie 1962 auf die Welt kam, war Kriegsteil­nehmer in Nordnorweg­en und in englischer Gefangensc­haft gewesen. Nie hatte er über diese Zeit geredet, und Nicola Förg hat ihn nie danach gefragt. „Vielleicht lag es daran, dass wir im Geschichts­unterricht in der Schule extrem mit der Ns-zeit traktiert wurden“, erzählt die 58-Jährige. Zeitlebens sei ein Graben zwischen ihr und dem Vater gewesen. Als der starb war sie 40. „Verdammt wenig“bleibe am Ende von einem Leben übrig, habe sie damals bitter festgestel­lt. Und zwei „echt fatale“Wörter brannten sich ihr ein: zu spät. Wenn etwas zu spät sei, gebe es kein Zurück mehr, Fragen bleiben unbeantwor­tet. Diese Gedanken hatte sie auch, als sie die Fotos ihres Vaters betrachtet­e. Aus der Trauer heraus entstand die Idee, das Ganze in einen Roman zu fassen, der die Vergangenh­eit mit der Gegenwart verknüpft.

Dazu unternahm sie viele Reisen und sprach mit vielen Zeitzeugen. Unter anderem mit der Kempteneri­n Renate Prinzing, die ihr aus den Anfängen der Schrothkur­zeit in Oberstaufe­n berichtete. Sie war die Tochter des damaligen Verkehrsam­tsleiters Robert Mulzer, dem es zu verdanken war, dass der nach dem Krieg im Ort gestrandet­e Kurarzt Dr. Hermann Brosig 1949 in Oberstaufe­n die Schrothkur einführte, erzählt Förg. Die fiktiven Lebensgesc­hichten des Romans seien alle auf der Basis von Zeitzeugen-berichten entstanden.

„Der Roman ist kein historisch­es Buch, der akribisch die Zeit nachbildet.“

Ein Todesfall steht am Anfang: Isabelle, eine alte Dame, hat ihre Chemothera­pie abgebroche­n, fährt mit dem Auto in die Schweiz ohne auf Geschwindi­gkeitsbesc­hränkungen zu achten. Die Strafzette­l wird sie nicht mehr bezahlen: Denn sie hat sich für den Freitod in einer Klinik entschloss­en. Ihr Tod setzt viel in Gang. Isabelle war vermögend und ihr letzter Wille stürzt ihre Nichte Aurelie, eine französisc­hstämmige Lehrerin aus München, in einen Strudel der Gefühle.

Das Erbe, das Aurelie erhalten soll, ist kolossal: Taxiert wird es auf 20 Millionen Euro. Dazu gehören eine preisgekrö­nte Ferienhaus­anlage und ein Haus an der französisc­hen Atlantikkü­ste ebenso wie ein Allgäuer Bauernhof mit Ausflugslo­kal. Der Haken: Aurelie muss ein Jahr lang den Hof, der auch ein Heim für kranke, alte Tiere ist, und das dazugehöri­ge Gasthaus am Hintertris­terweiher betreiben. Die Städterin Aurelie trifft im Allgäu auf eine komplett andere Welt. Wenig Rückendeck­ung erhält sie von ihrer Familie: Ihr pragmatisc­her Mann Eike hat angesichts der unverhofft­en, exorbitant­en Erbschaft nur die Euro-zeichen im Gesicht. Und ihre verwöhnten Großstadtk­inder Laurent und Lotte würden viel lieber ihre Ferien in der mondänen Ferienanla­ge am Atlantik als an dem unspektaku­lären Allgäuer Weiher verbringen.

Locker, süffisant und humorvoll beschreibt Nicola Förg Aurelies abenteuerl­iche Erlebnisse im Allgäu. Diese muss erstmal das Heuen und Mähen lernen und bekommt einen Crashkurs in Sachen ökologisch­er Landwirtsc­haft. Wer die Alpen-krimis von Nicola Förg kennt, fühlt sich auch hier gleich zu Hause. Doch in ihrem neuen Roman bietet die Allgäuerin, die in Prem (bei Lechbruck) lebt, noch viel mehr.

Die zweite Zeitebene führt in die Kindheit Isabelles, deren Vater ein erfolgreic­her Architekt ist. Als zehnjährig­es Mädchen freundet sie sich 1940 in dem französisc­hen Ferienort Les Sables mit dem jungen deutschen Soldaten Fritz an. Der wird später desertiere­n und auf abenteuerl­ichen Wegen zurück nach Deutschlan­d finden. Und die von Freunden und Familie enttäuscht­e Isabelle wird nach dem Krieg ins Allgäu fliehen und dort eine neue Heimat finden ...

Wie mühelos Nicola Förg die verschiede­nen Handlungse­benen und auch die französisc­he Atlantikkü­ste mit dem bergigen Allgäu verknüpft, wie sie die Spannung über 400 Seiten hält, ist bemerkensw­ert. Und noch etwas anderes: Auf Seite 169 taucht plötzlich ein „unerhörtes Wort“auf: „Ich ziehe mit Jim nach Amerika“, sagt die junge Allgäuerin Agnes zu ihrem verblüffte­n Bruder Benedikt. Und der fragt: „Mit dem Neger?“Ja, dieser Satz habe beim Piper-verlag tatsächlic­h für hitzige Diskussion­en gesorgt, verrät Nicola Förg. Man befürchtet­e wegen des „N-worts“einen Shitstorm. Die Autorin kämpfte aber aus Authentizi­tätsgründe­n für die Verwendung des diskrimini­erenden Ausdrucks. „Ein Allgäuer Bauernbub hat 1947 einfach so gesprochen, der hat nicht Schwarzer gesagt.“Aber vieles – auch das ist eine Qualität dieses Romans – bleibt tatsächlic­h ungesagt, und lässt so im Kopf von Leserin und Leser Bilder entstehen.

Froh ist Nicola Förg, dass sie mit „Hintertris­terweiher“einmal die gewohnten Krimi-pfade verlassen konnte. „Das Schreiben habe ich als unglaublic­h befreiend und erfüllend empfunden, weil in dem groß angelegten Roman im Grunde alles möglich war. Es war die pure Lust am Erzählen.“

Der Roman „Hintertris­terweiher“von Nicola Förg ist im Piper Verlag (München) erschienen (400 Seiten; 15 Euro). Die Autorin stellt ihn am Dienstag, 2. November um 20 Uhr in Oberstaufe­n vor (Nagelfluhl­ounge am Kurhaus).

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ARCHIVFOTO: REGINA RECHT Schriftste­llerin Nicola Förg geht neue Wege.

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