Die Krimi-autorin geht fremd
Schriftstellerin Nicola Förg schlägt in „Hintertristerweiher“ein neues Kapitel auf
- „Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt, und weil er schwärmt und glaubt, sich anlehnt und vertraut“, singt Herbert Grönemeyer in „Mensch“. Das Vergessen und Verdrängen kann wichtig, lebensnotwendig sein für Menschen, die Schlimmes erlebt haben. Wie das Schweigen darüber. Doch dies belastet oft auch die Nachfolgenden, vor allem wenn der Tod eine Brücke einreißt, ein Nachfragen nicht mehr möglich macht. Nicola Förg ist es während des Corona-lockdowns ähnlich ergangen. Zum Nichtstun verdammt räumte die Allgäuer Bestsellerautorin ihr Büro auf und stieß dabei auf alte Fotos ihres Vaters. Diese setzten etwas in ihr in Gang – und führten zu einem neuen Buch-projekt. „Hintertristerweiher“ist der Titel des Romans, mit dem Förg ein neues schriftstellerisches Kapitel aufschlägt – fern der gewohnten Genres Krimi und Reiseerzählung.
Ganze 80 Jahre – von 1940 bis heute – umspannt der Roman, der an der französischen Atlantikküste spielt, aber auch ins unterfränkische Ochsenfurt und nach München führt, vor allem aber an einem fiktiven Moorweiher bei Oberstaufen spielt. In dem Schrothkurort hatte Nicola Förg die ersten Kinderjahre verbracht. Der Vater, der schon 50 war, als sie 1962 auf die Welt kam, war Kriegsteilnehmer in Nordnorwegen und in englischer Gefangenschaft gewesen. Nie hatte er über diese Zeit geredet, und Nicola Förg hat ihn nie danach gefragt. „Vielleicht lag es daran, dass wir im Geschichtsunterricht in der Schule extrem mit der Ns-zeit traktiert wurden“, erzählt die 58-Jährige. Zeitlebens sei ein Graben zwischen ihr und dem Vater gewesen. Als der starb war sie 40. „Verdammt wenig“bleibe am Ende von einem Leben übrig, habe sie damals bitter festgestellt. Und zwei „echt fatale“Wörter brannten sich ihr ein: zu spät. Wenn etwas zu spät sei, gebe es kein Zurück mehr, Fragen bleiben unbeantwortet. Diese Gedanken hatte sie auch, als sie die Fotos ihres Vaters betrachtete. Aus der Trauer heraus entstand die Idee, das Ganze in einen Roman zu fassen, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft.
Dazu unternahm sie viele Reisen und sprach mit vielen Zeitzeugen. Unter anderem mit der Kemptenerin Renate Prinzing, die ihr aus den Anfängen der Schrothkurzeit in Oberstaufen berichtete. Sie war die Tochter des damaligen Verkehrsamtsleiters Robert Mulzer, dem es zu verdanken war, dass der nach dem Krieg im Ort gestrandete Kurarzt Dr. Hermann Brosig 1949 in Oberstaufen die Schrothkur einführte, erzählt Förg. Die fiktiven Lebensgeschichten des Romans seien alle auf der Basis von Zeitzeugen-berichten entstanden.
„Der Roman ist kein historisches Buch, der akribisch die Zeit nachbildet.“
Ein Todesfall steht am Anfang: Isabelle, eine alte Dame, hat ihre Chemotherapie abgebrochen, fährt mit dem Auto in die Schweiz ohne auf Geschwindigkeitsbeschränkungen zu achten. Die Strafzettel wird sie nicht mehr bezahlen: Denn sie hat sich für den Freitod in einer Klinik entschlossen. Ihr Tod setzt viel in Gang. Isabelle war vermögend und ihr letzter Wille stürzt ihre Nichte Aurelie, eine französischstämmige Lehrerin aus München, in einen Strudel der Gefühle.
Das Erbe, das Aurelie erhalten soll, ist kolossal: Taxiert wird es auf 20 Millionen Euro. Dazu gehören eine preisgekrönte Ferienhausanlage und ein Haus an der französischen Atlantikküste ebenso wie ein Allgäuer Bauernhof mit Ausflugslokal. Der Haken: Aurelie muss ein Jahr lang den Hof, der auch ein Heim für kranke, alte Tiere ist, und das dazugehörige Gasthaus am Hintertristerweiher betreiben. Die Städterin Aurelie trifft im Allgäu auf eine komplett andere Welt. Wenig Rückendeckung erhält sie von ihrer Familie: Ihr pragmatischer Mann Eike hat angesichts der unverhofften, exorbitanten Erbschaft nur die Euro-zeichen im Gesicht. Und ihre verwöhnten Großstadtkinder Laurent und Lotte würden viel lieber ihre Ferien in der mondänen Ferienanlage am Atlantik als an dem unspektakulären Allgäuer Weiher verbringen.
Locker, süffisant und humorvoll beschreibt Nicola Förg Aurelies abenteuerliche Erlebnisse im Allgäu. Diese muss erstmal das Heuen und Mähen lernen und bekommt einen Crashkurs in Sachen ökologischer Landwirtschaft. Wer die Alpen-krimis von Nicola Förg kennt, fühlt sich auch hier gleich zu Hause. Doch in ihrem neuen Roman bietet die Allgäuerin, die in Prem (bei Lechbruck) lebt, noch viel mehr.
Die zweite Zeitebene führt in die Kindheit Isabelles, deren Vater ein erfolgreicher Architekt ist. Als zehnjähriges Mädchen freundet sie sich 1940 in dem französischen Ferienort Les Sables mit dem jungen deutschen Soldaten Fritz an. Der wird später desertieren und auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Deutschland finden. Und die von Freunden und Familie enttäuschte Isabelle wird nach dem Krieg ins Allgäu fliehen und dort eine neue Heimat finden ...
Wie mühelos Nicola Förg die verschiedenen Handlungsebenen und auch die französische Atlantikküste mit dem bergigen Allgäu verknüpft, wie sie die Spannung über 400 Seiten hält, ist bemerkenswert. Und noch etwas anderes: Auf Seite 169 taucht plötzlich ein „unerhörtes Wort“auf: „Ich ziehe mit Jim nach Amerika“, sagt die junge Allgäuerin Agnes zu ihrem verblüfften Bruder Benedikt. Und der fragt: „Mit dem Neger?“Ja, dieser Satz habe beim Piper-verlag tatsächlich für hitzige Diskussionen gesorgt, verrät Nicola Förg. Man befürchtete wegen des „N-worts“einen Shitstorm. Die Autorin kämpfte aber aus Authentizitätsgründen für die Verwendung des diskriminierenden Ausdrucks. „Ein Allgäuer Bauernbub hat 1947 einfach so gesprochen, der hat nicht Schwarzer gesagt.“Aber vieles – auch das ist eine Qualität dieses Romans – bleibt tatsächlich ungesagt, und lässt so im Kopf von Leserin und Leser Bilder entstehen.
Froh ist Nicola Förg, dass sie mit „Hintertristerweiher“einmal die gewohnten Krimi-pfade verlassen konnte. „Das Schreiben habe ich als unglaublich befreiend und erfüllend empfunden, weil in dem groß angelegten Roman im Grunde alles möglich war. Es war die pure Lust am Erzählen.“
Der Roman „Hintertristerweiher“von Nicola Förg ist im Piper Verlag (München) erschienen (400 Seiten; 15 Euro). Die Autorin stellt ihn am Dienstag, 2. November um 20 Uhr in Oberstaufen vor (Nagelfluhlounge am Kurhaus).