Der Untergang eines Imperiums
Vor zehn Jahren meldete der Ehinger Drogeriekonzern Schlecker Insolvenz an – Bis heute kämpfen ehemalige Mitarbeiterinnen mit den Folgen einer der größten Unternehmenspleiten in Deutschland
- Es ist zwar deutlich seltener geworden. Aber manchmal passiert es doch noch, dass jemand den Drogeriemarkt in Stetten am kalten Markt im Landkreis Sigmaringen „Schlecker“nennt, obwohl es hier schon lange keinen Schlecker mehr gibt. „Das ist halt bei manchen Kunden noch Gewohnheit“, sagt Andrea Straub lachend, „aber das ist nicht schlimm.“
Im beleuchteten Regal rechts von ihr stapeln sich Lippenstifte, Lidschatten und Nagellack, im Regal auf ihrer linken Seite Hautcremes und Shampo. In genau diesem Geschäft im Zentrum der kleinen, schwäbischen 4700-Seelen-gemeinde konnten Kunden schon vor zehn Jahren Drogerieartikel kaufen. Doch damals prangte noch das blau-weiße Schlecker-logo über dem Filialeingang. „Da waren die Regale alt“, erzählt Andrea Straub, „und die Böden auch“, ergänzt ihre Kollegin Karin Beck. Sie beide haben schon damals hier gearbeitet. Straub war insgesamt 15 Jahre für Schlecker tätig, Beck zwei Jahre lang.
Heute ist das Blau-weiß längst Geschichte. Straub, Beck und ihre Mitarbeiterin, Erika Kleiner, tragen ihre Kleidung im gleichen Grün wie die Wandfarbe. Die Regale sind erneuert, ebenso der Boden. Über dem Filialeingang hängt jetzt der neue Schriftzug der Drogerie: „Drehpunkt.“„Mit Schlecker haben wir abgeschlossen“, sagt Karin Beck selbstbewusst. Doch dabei ist auch klar: Der Weg für die Frauen war nicht leicht.
Schon eine Weile bevor Schlecker am 23. Januar 2012 Insolvenz anmeldete, bemerkten die Mitarbeiterinnen in Stetten am kalten Markt, dass „etwas nicht stimmte“. „Die Ware kam teilweise gar nicht, wir wurden immer wieder vertröstet“, sagt Straub. Es war der sichtbare Beginn des Untergangs der damals größten Drogeriemarktkette Europas.
Eine Autostunde von Stetten entfernt, in Ehingen im Alb-donaukreis, liegen die Anfänge dieses Drogerie-imperiums. Der gelernte Metzger Anton Schlecker war 1965 in die Firma seines Vaters eingestiegen, eine Fleischwarenfabrik. Im selben Jahr eröffnete er in Ehingen ein Selbstbedienungswarenhaus. 1975 gründete er in Kirchheim unter Teck seine erste Drogerie. Nur zehn Jahre später waren es schon tausend Geschäfte. Das Ziel Schleckers war es, mittels einer großen Masse an Filialen die Einkaufspreise zu drücken. Über lange Zeit gelang ihm das und Schlecker konnte seinen Kunden günstigere Preise anbieten als die Hauptkonkurrenten dm, Rossmann und Müller.
„Man muss das absolut anerkennen“, sagt Roland Alter, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Heilbronn. „Anton Schlecker hat die Erfolgsmöglichkeiten eines breit gestreuten Filialkonzeptes erkannt und er hatte – das ist das Entscheidende – dann auch den Mut, es umzusetzen.“
In seinen besten Zeiten machte das Unternehmen einen Umsatz von sieben Milliarden Euro. Schlecker beschäftigte rund 50 000 Mitarbeiter in etwa 14 000 Filialen im Inund Ausland. Selbst in den kleinsten, deutschen Gemeinden fand man in der Regel irgendwo das berühmte blau-weiße Logo. Doch das Schlecker-image bekam Brüche. Die Gewerkschaft HBV erhob 1994 schwere Vorwürfe: Das Unternehmen zahle unter Tarif, behindere Betriebswahlen und schikaniere Mitarbeiter. 2010 berichteten Medien von Überwachungskameras, Leiharbeitsverträgen und schlechter Bezahlung.
Hinzu kam, dass Schlecker gegenüber seinen Konkurrenten mehr und mehr an Boden verlor. Während dm und Rossmann die sich verändernden Einkaufsbedürfnisse ihrer Kunden erkannten und moderne, große, helle Läden etablierten, blieben die Käufer bei Schlecker aus, „weil die Läden zu klein, zu alt und unattraktiv waren“, sagt Patrick Hacker, Sprecher des Insolvenzverwalters Arndt Geiwitz. Die Konkurrenten besaßen zwar weniger Filialen als Schlecker, aber sie machten deutlich höhere Umsätze pro Quadratmeter. Bei Schlecker hingegen wuchsen die Verluste.
Wie veraltet die Schlecker-filialen waren, erlebten auch Andrea Straub und Karin Beck tagtäglich. In ihrem Geschäft in Stetten am kalten Markt durften sie noch nicht mal ein Telefon benutzen. Einen Computer habe es nie gegeben. Ständig habe es außerdem geheiße „Anton Schlecker ist unterwegs“, um ihnen einen Filialbesuch abzustatten. Alles müsse perfekt sein. Doch gekommen seien die Schleckers nie. Einzig ein Bild von Anton Schlecker und seiner Frau Christa hing an der Wand im Büro. Abhängen verboten!
„Es ist erkennbar ein Unternehmen gewesen, das ausgerichtet war auf den Mann an der Spitze und den engen Zirkel seiner Familie“, sagt Roland Alter. An sich heran ließ die Führungsriege kaum jemanden, Anton Schlecker galt als beratungsresistent. „Die Beziehungen zu Schlecker waren eigentlich immer ziemlich reserviert“, erinnert sich auch Bernhard Franke, der ehemalige Verdi-verhandlungsführer bei der Schlecker-insolvenz. Mitbestimmung sei in dem Unternehmen nicht akzeptiert worden.
Dazu passt, dass Anton Schlecker als eingetragener Kaufmann agierte, eine Rechtsform, die es ihm ermöglichte, weitgehend unbeeinflusst von außen zu agieren – eine absolute Seltenheit bei so einer Unternehmensgröße.
In Ehingen arbeitete die Familie hinter den verspiegelten Fenstern einer riesigen Konzernzentrale und lebte privat abgeschottet nicht weit entfernt auf einem großen Grundstück hinter hohen Mauern.
Angesichts der Kritik an seinem Konzern musste aber auch Anton
Schlecker irgendwann einsehen, dass er etwas verändern musste. Schlecker holte im Jahr 2010 seine Kinder Lars und Meike in die Führung des Unternehmens und begann mit einem radikalen Umbau des Filialnetzes. Die veralteten Billigläden sollten zu hochwertigen Drogerien umgebaut werden. Auch in Stetten am kalten Markt wurden „die neuen Schaufenster schon eingebaut“, erzählt Andrea Straub. „Im Prinzip waren all diese Maßnahmen
richtig“, sagt Patrick Hacker. Doch das große Problem sei gewesen, dass sie zu spät ergriffen wurden. „Die Insolvenz war am Ende des Tages nicht mehr zu vermeiden, weil die Restrukturierung gerade im Filialbereich gar nicht mehr in der Geschwindigkeit durchgeführt werden konnte, wie es notwendig gewesen wäre. Dafür haben schlicht die Mittel gefehlt.“
Anton Schlecker wollte bis zum Schluss nicht wahrhaben, dass sein
Lebenswerk zerbröckelte. „Die Insolvenz für mein Unternehmen war für mich unvorstellbar“, sagte er später vor Gericht.
Doch am 23. Januar 2012 passierte das Unvermeidliche: Nach einer geplatzten Finanzierung von Lieferungen musste der Konzern Insolvenz anmelden. Tochter Meike Schlecker nahm neben Insolvenzverwalter Geiwitz an der Pressekonferenz teil, bei der sie den berühmten Satz sagte: „Es ist nichts mehr da.“Anton Schlecker haftete bei der Pleite als eingetragener Kaufmann voll und ganz mit seinem Privatvermögen. Aber dieses sei, so Meike Schlecker, eben längst aufgebraucht gewesen.
Was sie an diesem Tag nicht sagte, war, dass sie und ihr Bruder Lars, die als Geschäftsführer von Schleckers Logistiktochter LDG, fungierten, dem Mutterkonzern überteuerte Dienstleistungen in Rechnung gestellt hatte und zwar zu einem Zeitpunkt, als Schlecker schon insolvent war, um auf diese Weise der vor dem Ruin stehenden Drogeriekette Geld zu entziehen. Vor allem aber: Wenige Tage vor der Insolvenzanmeldung überwiesen Lars und Meike Schlecker sich rund sieben Millionen Euro von Ldgkonten.
Wegen Untreue, Insolvenzverschleppung und Beihilfe zum vorsätzlichen Bankrott wurden Lars und Meike Schlecker später zu Haftstrafen verurteilt. Anton Schlecker selbst wurde wegen vorsätzlichen Bankrotts zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Im Wissen um die bevorstehende Insolvenz habe er Geld zur Seite geschafft. Ihm blieb das Gefängnis im Gegensatz zu seinen Kindern erspart.
Die rund 25 000 vor allem weiblichen Mitarbeiter in Deutschland, die in der Presse bald den Namen „Schlecker-frauen“bekamen, bangten nach der Insolvenzanmeldung derweil um ihre Jobs. Im März 2012 scheiterte der Versuch von Insolvenzverwalter Geiwitz, eine Transfergesellschaft für knapp 10 000 vor der Kündigung stehende Beschäftigte auf die Beine zu stellen. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) lehnte einen Kredit durch die Staatsbank KFW ab und verwies auf die Zuständigkeit der Länder. „Das waren sehr dramatische Tage damals“, erinnert sich Nils Schmid (SPD), damaliger Minister für Finanzen und Wirtschaft in Baden-württemberg. „Wir waren auf der Zielgeraden.“Doch am Ende sei die Bürgschaft am Widerstand der FDP in der bayerischen Landesregierung gescheitert. „Es war vor allem ein Drama für die Betroffenen“, sagt Schmid.
Andrea Straub und Karin Beck aus Stetten Im kalten Markt hatten noch lange gehofft, dass ihr Geschäft weiter bestehen könne. „Es hieß ja erst, dass gute Läden weiterlaufen werden und Stetten war ein guter Laden mit gutem Umsatz“, sagt Straub. Doch irgendwann war klar, dass auch der Schlecker in Stetten zumachen muss. „Wir haben alles ausgeräumt, haben die Fenster abgeklebt und den Schlüssel umgedreht und dann sind wir erst einmal Pizza essen gegangen“, erzählt Straub. Das große Glück der Frauen sei gewesen, dass sie sich gegenseitig gehabt haben. „Sonst hätten wir das nicht so gut durchgestanden“, sagt Beck.
Erst Monate später gab es wieder Hoffnung für die Frauen. Verdi hatte ein Programm aufgelegt, um ehemaligen Beschäftigten den Schritt in die Selbstständigkeit zu ermöglichen. Mit den sogenannten Drehpunkt-läden, angesiedelt in ehemaligen Schlecker-räumlichkeiten, erhielten die Frauen eine neue Perspektive. Andrea Straub und Karin Beck sind heute stolz, dass sie es geschafft haben, ihr eigenes Geschäft aufzubauen, auch wenn es ihnen die Konkurrenten dm oder Rossmann definitiv nicht leicht machen.
Während Straub und Beck die alten Schlecker-aktenordner längst aus ihrem Büro verbannt haben, zieht sich das Insolvenzverfahren in die Länge. Insolvenzverwalter Geiwitz versucht weiter Geld zu erstreiten, um zunächst überhaupt die Masseverbindlichkeiten, also Ansprüche der Bundesagentur für Arbeit und der ehemaligen Schlecker-beschäftigten, die nach Eintritt der Insolvenz entstanden waren, zu bedienen. Laut seinem Sprecher Patrick Hacker umfassen diese einen dreistelligen Millionenbetrag. Erst wenn dieser Betrag bedient ist, könne Geld an die Insolvenzgläubiger ausgezahlt werden. Bis heute hat Schlecker etwa 28 000 Gläubiger, die Insolvenzforderungen von etwa über 1,2 Milliarden Euro angemeldet haben. „Wir machen den Insolvenzgläubigern wenig Hoffnungen“, sagt Hacker. Er betont aber, dass sich die Familie Schlecker „insgesamt, im ganzen Insolvenzprozess, sehr kooperativ gezeigt“habe.
Wie Anton Schlecker selbst auf den Zerfall seines Drogerie-imperiums zurückblickt, ist offen. Auch heute noch lebt der 77-Jährige in Ehingen von der Öffentlichkeit zurückgezogen auf seinem hinter einer hohen Mauer verborgenen Grundstück. Doch nahezu täglich, so sagen Beobachter, fährt Schlecker in die Tiefgarage seiner verglasten, ehemaligen Konzernzentrale, die heute unter anderem von der Agentur für Arbeit, Startups und einem Fitnesstudio genutzt wird. Die siebte Etage in dem Glaspalast hat Schlecker noch immer gemietet, um von dort aus seine Immobilienverwaltung zu betreiben. Wenn er dann aus dem Fenster sieht, muss er den Blick auf die Überreste seines zerbrochenen Imperiums ertragen. Wie ihm das gelingt, bleibt wohl sein Geheimnis.
Chronologie zum Fall Schlecker auf