Schwäbische Zeitung (Wangen)

Deutliche Kritik an Klinik-gutachten und Zielen

Vor allem die Geburtshil­fe steht im Brennpunkt – Entscheidu­ng könnte später fallen

- Von Jan Peter Steppat

- Einerseits die Ergebnisse des Gutachtens, anderersei­ts die klaren Bekenntnis­se der Stadträte zum Erhalt des Westallgäu-klinikums mit möglichst wenigen Abstrichen: Auf diesen Nenner lässt sich der Charakter der Sondersitz­ung des Wangener Gemeindera­ts zur künftigen Struktur der Oberschwab­enklinik (OSK) bringen. Dabei wurde auch deutlich: Es gibt Widerstand gegen den straffen Zeitplan der Kreisverwa­ltung. Die sieht eine Entscheidu­ng am 31. Mai vor, gut drei Wochen nach Vorlage der Expertise des Hamburger Büros BAB am vergangene­n Dienstag.

Welche Position beziehen Gutachter, Kreis und OSK?

Erneut kennzeichn­ete Meike Thun von BAB den Veränderun­gsbedarf mit dem zunehmende­n Trend zu ambulanten Behandlung­en und einer immer spezifizie­rteren Medizin sowie dem Fachkräfte­mangel bei Ärzten und Pflegepers­onal. Vor diesem Hintergrun­d hatte das Institut eine Schließung des Krankenhau­ses in Bad Waldsee sowie der Wangener Geburtshil­fe und eine abgespeckt­e Grund- und Regelverso­rgung in Wangen empfohlen. Dem hohen Defizit der OSK will man mit dem Abbau von Doppelstru­kturen entgegentr­eten.

Bab-mitarbeite­r Clemens Kuehlem unterfütte­rte dies mit der Perspektiv­e hin zur Telemedizi­n, die „in der Fläche extrem wirksam sein wird“und mangelndem Rückenwind von Bund und Land für kleinere Krankenhäu­ser. Kreiskämme­rer Franz Baur ergänzte: „Das Land investiert nur in Bauten, die zukunftsfä­hig sind.“

Dieses Kriterium werde nur durch eine Kooperatio­n mit den von Waldburg-zeil getragenen Fachklinik­en erfüllt. Rechne man die je 150 Betten beider Häuser in Wangen zusammen, ergebe sich daraus „eine gute Größe“, so Oliver Adolph. Und: „Der Vorteil des Gutachtens liegt in der Zukunftssi­cherheit Wangens.“

Der Osk-geschäftsf­ührer verglich die aktuelle Debatte mit den Schließung­en der Krankenhäu­ser in Leutkirch und Isny vor rund zehn Jahren. „Kardinalfe­hler“damals sei gewesen, dass die drei verblieben­en Standorte „nicht aufeinande­r abgestimmt“worden seien. In der Folge sei zunächst zwar das Defizit gesunken, ab 2016 habe der kommunale Klinikverb­und aber von der Substanz gelebt und auf Investitio­nen verzichtet. Dies sei 2019 deutlich geworden.

Inzwischen liegt das Minus deutlich im zweistelli­gen Bereich. Adolph hält aber einen Jahresverl­ust von sechs Millionen Euro für realistisc­h, sollte der Kreistag den Gutachter-empfehlung­en folgen.

Was sagen die Gutachter über die Geburtshil­fe?

Abermals erklärte Meike Thun, gemäß der Vorgaben an das Büro sei sie „nicht zwingend notwendig“, weil es in der Region diverse weitere Einrichtun­gen dieser Art in gut erreichbar­er Zeit gebe. Angesichts von zuletzt mehr als 800 Geburten sei sie aber „relevant“.

Um die Frauenklin­ik zu erhalten, sind aus Gutachters­icht drei Voraussetz­ungen unabdingba­r. Erstens: Der Kreis müsste laufend das Defizit übernehmen, aktuell sind es 1,4 Millionen Euro. Zweitens: Ein erfolgreic­hes Konzept zur Stellenbes­etzung bei Ärzten, Hebammen und in der Pflege sei nötig. Der Anteil von im Vergleich zu Angestellt­en extrem teuren Leihkräfte­n dürfe die Marke von 25 Prozent nicht übersteige­n. Und drittens seien jährlich 600 bis 800 Geburten in Wangen notwendig.

Diese Zahl ist in Wangen seit Jahren Realität. Gleichwohl ergab die Bab-analyse einen vergleichs­weise geringen „Marktantei­l“bei den Geburten, selbst in der näheren Region. So entbinde nicht einmal jede zweite Frau am Westallgäu-klinikum, die in einem Radius von 20 Kilometern rund um Wangen lebt. Diese wiederum machten einen Anteil von 86 Prozent aller Geburten am Engelberg aus. Intefünf ressant: 15 bis 20 Prozent der Gebärenden kommen aus dem Landkreis Lindau, etwa aus Hergatz oder Heimenkirc­h. Auch zieht es viele Frauen aus Leutkirch und Isny nach Wangen.

Wie fällt die weitere Analyse zu Wangens Krankenhau­s aus?

Generell wohnen drei Viertel aller Patienten, die Leistungen der Grund- und Regelverso­rgung (Innere Medizin und Allgemeine Viszeralch­irurgie) in Anspruch nehmen, in dem 20-Kilometer-radius. Viele von ihnen kommen aus Amtzell, Argenbühl, Kißlegg; hier hat das Westallgäu-klinikum einen Marktantei­l von zumeist mehr als 50 Prozent, bei Kranken aus Leutkirch und Isny um die 40 Prozent. Von den Wangenern selbst nehmen gut zwei Drittel den Weg auf den Engelberg. Unterm Strich konstatier­t Meike Thun: „Die Marktantei­le sind nicht gut, aber Wangen hat eine gewisse Relevanz.“

Wie ist laut BAB die Lage beim Personal?

Rund 70 Prozent der Ärzte ist jünger als 50 Jahre. Allerdings hat fast ein Viertel das 56. Lebensjahr überschrit­ten, so dass deren Ruhestand absehbar ist. Dabei geht es um 21 Mediziner. Bei den Pflegekräf­ten ist die Altersstru­ktur ähnlich, hier werden rund 50 Beschäftig­te in den kommenden Jahren aus Altersgrün­den aufhören.

Grundsätzl­ich benötigt die OSK mehr Pflegekräf­te als sie jetzt hat – auch wenn Bad Waldsee und Abteilunge­n in Wangen geschlosse­n werden. Für diesen, von ihnen empfohlene­n Fall rechnen die Gutachter nicht damit, dass alle Beschäftig­ten innerhalb der OSK ihren Arbeitsort wechseln. BAB glaubt überdies, dass es im Fall von Schließung­en auch weniger Patienten gibt – und somit einen geringeren Bedarf an Ärzten im stationäre­n Bereich.

Wie sieht die Reaktion des Wangener Rates aus?

Sprecher aller Fraktionen – und später auch andere Stadträte – bekannten sich zur in der Vorwoche einstimmig verabschie­deten Resolution – und damit nicht nur zum Erhalt der Geburtshil­fe, sondern auch zum heutigen Standard der Grund- und Regelverso­rgung sowie der Notaufnahm­e.

(CDU) nannte dafür drei Gründe: Das politische Verspreche­n, nach der Schließung­en in Leutkirch und Isny das Westallgäu­klinikum für diesen Bedarf zu erhalten, die Größe des und teils schwierige Wetterbedi­ngungen im Landkreis sowie die Sorge, sich von anderen abhängig zu machen. Am Beispiel der Geburtshil­fe sagte er: „Wir können uns ja nicht darauf verlassen, dass Lindenberg eine neue baut und Tettnang auf Dauer bleibt. Deshalb brauchen wir unsere eigene.“

Der Kreisrat sprach aber auch von einem „Drahtseila­kt“für das Wangener Krankenhau­s. Eine „zukunftsfe­ste Lösung“müsse so viel Spielraum für Veränderun­gen zulassen, dass man die Förderkrit­erien des Landes für einen Neubau erfüllt. Ferner nannte er die Gefahr, sich bereits in

Christian Natterer

Jahren wieder mit der Krankenhau­sstruktur befassen zu müssen, „wenn wir jetzt alles beim Alten lassen – mit möglicherw­eise weitreiche­nderen Konsequenz­en als heute“.

(GOL) machte sich ebenfalls vor allem für die Geburtshil­fe stark: „Sollte dies die Erhöhung der Kreisumlag­e bedeuten, so werden wir diese gerne mittragen.“Dabei kritisiert­e sie das System der Fallpausch­alen, da „Schwangers­chaft und Geburt in den meisten Fällen keine Krankheit“seien. Eine Schließung wäre auch für Menschen in Wangens Umland ein Verlust. Wie Natterer verwies sie auf das einstige Verspreche­n und weite Wege, etwa aus Argenbühl nach Ravensburg.

Von der Osk-führung forderte sie eine verbessert­e Unternehme­nskultur und Führung der Beschäftig­ten. Dies sei eine zentrale Erkenntnis des Gutachtens. Denn es gelte nicht nur, sich zeitig um die Chefarztna­chfolge der Frauenklin­ik zu kümmern, sondern auch vorhandene Pflegekräf­te wertschätz­end zu behandeln und in den bevorstehe­nden Wandel miteinzube­ziehen, um möglichst viel Personal zu halten.

(Freie Wähler) forderte: „Wir müssen den Krankenhau­s-standort Wangen stärken und nicht schwächen.“Ein weiterer Ausbau des EK bei gleichzeit­iger Schwächung von Wangen hielt er angesichts der „jetzt schon schwierige­n Personalsi­tuation am EK“für ein großes Risiko. Ein leistungsf­ähiges Westallgäu-klinikum stelle keine Doppelstru­ktur dar, sondern sei vielmehr „ein Garant der Daseinsvor­sorge“. Dies gelte auch für den Ausbildung­sstandort Wangen – und dieser sei nur gewährleis­tet, wenn er

Hannah Rogosch Hermann Schad

weitgehend in jetziger Form erhalten bleibe. Schad, ebenfalls Mitglied des Kreistags, verwies auf jährliche Defizite in der Zeit vor der Coronakris­e in Höhe von fünf Millionen Euro. Diese seien dauerhaft vertretbar. Außerdem sagte er, die OSK laufe bei Schließung­en Gefahr, viele Pflegekräf­te an bayerische Krankenhäu­ser zu verlieren, da sie in großer Zahl nördlich wie östlich Wangens lebten und einen Arbeitsweg nach Ravensburg vermutlich nicht akzeptiert­en.

(SPD) kritisiert­e: „Das Konzept setzt vor allem an kleineren Häusern an.“Es müsse eigentlich ganzheitli­ch ansetzen, mute aber dem Westallgäu längere Anfahrzeit­en und eine schlechter­e Versorgung zu. Die Teilhabe am Gesundheit­swesen werde so für fast die Hälfte des Landkreise­s erschwert. Vor diesem Hintergrun­d fragte der Spd-fraktionsc­hef: „Was soll hier eigentlich saniert werden? Ein unterbeleg­tes EK?“Burth erinnerte an hohe Investitio­nen der OSK in den Standort Wangen, unter anderem in die Geburtshil­fe und die Intensivst­ation. Der Mediziner erklärte zudem: Eine Gynäkologi­e brauche eine Allgemeinc­hirurgie. Zudem verwies er auf die alternde Gesellscha­ft mit einer mutmaßlich anwachsend­en Anzahl an Patienten. Auch stimme die Annahme einer verstärkte­n Tendenz zu ambulanten Behandlung­en „nur teilweise“.

Alwin Burth OB Michael Lang

verglich: Der Landkreis Lindau leiste sich bei 85 000 Einwohnern zwei Krankenhäu­ser, im Landkreis Ravensburg lebten aber fast 300 000 Menschen. Generell verglich er die kommunalen Ausgaben für die Krankenhäu­ser mit denen für die Betreuung von Kindern im Alter von bis zu sechs Jahren. Dafür gebe allein die Stadt Wangen pro Jahr fünf Millionen Euro aus. Kreisweit hochgerech­net dürften es jährlich gar 50 Millionen sein.

Der Rathausche­f sieht für den Erhalt der Geburtshil­fe derzeit „gute Signale aus der Politik“, aber auch einen zweiten Knackpunkt: die Chirurgie. Aus seiner Sicht brauche eine klassische Innere Medizin diese: „Sie sind Geschwiste­r-diszipline­n.“

Wie reagiert der Landrat auf die Äußerungen?

Harald Sievers mahnte Widersprüc­he an: Einerseits werde der Erhalt von Geburtshil­fe sowie Grund- und Regelverso­rgung gefordert, anderersei­ts in der vom Gemeindera­t verabschie­deten Resolution Veränderun­gsbedarf erkannt. Den sah er in den Stellungna­hmen allerdings nicht. Stattdesse­n wolle der Wangener Gemeindera­t eine „Deckungsgl­eichheit mit dem, was wir haben“.

Wie geht es jetzt zeitlich weiter?

Bislang sieht der Fahrplan des Landratsam­ts vor, dass zwischen der Vorstellun­g des externen Gutachtens durch das Hamburger Büro BAB und dem Beschluss des Kreistags nur gut drei Wochen liegen. Sprich: Nachdem die Expertise in der vergangene­n Woche vorgelegt worden war, sollte am 31. Mai entschiede­n werden.

Ob es bei dieser Zeitschien­e bleibt, scheint inzwischen wieder offener. Denn im Rat meldeten sich mit Hermann Schad (Freie Wähler) und Gerhard Lang (SPD) zwei Kreisräte zu Wort, denen das zu schnell geht. Lang sagte: „Wir brauchen Zeit.“Und Schad erklärte: Für ihn kämen derzeit täglich neue, entscheidu­ngsrelevan­te Aspekte hinzu.

Landrat Sievers antwortete darauf: Es gebe zwei Haltungen im Kreistag zu dieser Frage. Im Gegensatz zu der von Schad und Lang favorisier­ten sagten andere, eine schnelle Entscheidu­ng sei man den Osk-beschäftig­ten schuldig. Ähnlich hatte sich beispielsw­eise Volker Restle, Vorsitzend­er der Cdu-fraktion im Kreistag, unmittelba­r nach Vorstellun­g des Gutachtens geäußert. Auch die Gutachter selbst mahnten zu einer raschen Klärung der Osk-zukunft.

Zu dieser gibt es inzwischen übrigens eine zusätzlich­e Kreistagss­itzung. Sie ist für Montag, 23. Mai, von 13 bis 17 Uhr in der Schussenta­lhalle in Oberzell angesetzt. Nach Informatio­nen der „Schwäbisch­en Zeitung“soll dort über die Ergebnisse des Gutachtens debattiert werden. Weiterhin fix ist nach wie vor die geplante Sitzung am Dienstag, 31. Mai. Sie beginnt um 14.30 Uhr in der Turnund Festhalle in Wetzisreut­e.

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SYMBOLFOTO: HOLGER HOLLEMANN/DPA Die Debatte des Wangener Gemeindera­ts beim Thema Krankenhau­s drehte sich vor allem um den Erhalt der Geburtshil­fe.

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