Höchste Eisenbahn
Im Graubündener Bergort Bergün werden Gleisanlagen als Welterbe gefeiert
Sie hatten einmal hochfliegende Pläne in Bergün. Eine Art Kopie von Sankt Moritz oder von Davos wollten sie werden, hier in diesem kleinen Dorf mit heute 500 Einwohnern. Eine Sommerfrische für Wohlbetuchte schwebte den Hoteliers zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor. Schnell wurde klar, dass man sich damit zu übernehmen drohte, und mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren die Pläne ohnehin vom Tisch.
Zum Glück, sagen sie heute in Bergün. Denn so hat das Bündner Bergdorf seinen ursprünglichen Charme erhalten. Doch die Grundlage, die den Bergünern damals den Traum vom Nobelkurort erlaubte, die gibt es noch immer: Die im Jahr 1903 eröffnete Albula-linie der Rhätischen Bahn führt hier vorbei. Sie verbindet Thusis am Rhein mit Sankt Moritz im Engadin, prägt das Albulatal und besonders den Ort Bergün, der sich heute mit dem Namen „Bahndorf“schmückt.
„Ohne Rhätische Bahn gäbe es bei uns keinen Tourismus“, sagt Marcandrea Barandun, Geschäftsführer des örtlichen Tourismusverbands, der ebenso wie das Bahnmuseum natürlich im Bahnhof untergebracht ist. Die Albulabahn ist nicht irgendeine Bahnstrecke. Sie lockt Eisenbahnenthusiasten aus aller Welt an. „Eine Pionierleistung der Ingenieurskunst, integriert in die Natur“, so formuliert es Stefan Barandun, Führer im Bahnmuseum, mit dem Tourismuschef nicht näher verwandt. Auf gut 60 Kilometern rollen die Züge über 144 Brücken und durch 42 Galerien und Tunnels. Von Norden kommend überwinden sie dabei 1000 Höhenmeter, bis sie bei Preda, südlich von Bergün, in den Albulatunnel einfahren, den zweithöchsten Alpendurchstich der Schweiz, durch den es hinüber ins Engadin geht. 2008 wurde die
Albulabahn gemeinsam mit der südlich anschließenden Berninabahn ins Unesco-welterbe aufgenommen.
„Allein zwischen Bergün und Preda beträgt der Höhenunterschied 400 Meter“, berichtet Stefan Barandun. Dieser Abschnitt ist der spektakulärste. Damit Lokomotiven die steile Steigung überhaupt meistern können, windet sich die Trasse in Kehren und Schlaufen, teils in Tunneln, teils auf Viadukten, den Berg hinauf. Stefan Barandun führt Gäste über den eigens eingerichteten Bahn-erlebnisweg. Hinauf nach Preda geht es per Zug. Dort empfängt die Besucher auf 1800 Metern Höhe erst einmal eine Baustelle. Der Albulatunnel wird gerade neu gebaut. Ab 2024 sollen die Züge durch den neuen Tunnel rollen, der alte war in die Jahre gekommen und dient künftig als Rettungstunnel. In zweieinhalb Stunden führt der Weg nun zurück nach Bergün, unter den schroffen Wänden der Albula-alpen, durch Bergwälder und immer wieder mit dem Blick auf Gleise und Brücken, mal auf der einen, mal auf der anderen Talseite. Zwischendurch rollt ein Zug mit extragroßen Aussichtsfenstern und noch größerem auflackierten Schweizerkreuz vorbei: Auf der Strecke verkehrt auch der bekannte Touristenzug Glacier Express zwischen Zermatt und Sankt Moritz.
Zurück in Bergün bietet sich ein Besuch im Bahnmuseum an. Wer nachmittags kommt, hat gute Chancen, auf Bernhard Tarnutzer zu treffen. Den Engadiner als Modellbahnenthusiasten zu bezeichnen, wäre wohl untertrieben. Vor 30 Jahren hat er angefangen, die schönsten Abschnitte der Albulabahn im Modell nachzubauen, und er baut immer noch. Inzwischen ist er mit seiner Modelleisenbahnanlage ins Bergüner Bahnmuseum umgezogen. Gerade bearbeitet er mit einer Pinzette eine Kupplung, die er an seinen Miniaturwaggons exakt nach Vorbild der Rhätischen Bahn umgebaut hat. Dann lässt er den Bernina Express im Tunnel verschwinden. Jeden Nachmittag kommt Tarnutzer für die Pflege seiner Modellwelt aus dem Oberengadiner Ort Samedan angereist, natürlich mit der Bahn.
Zu denen, die finden, in der Gegend könnte für Bahnfans durchaus noch etwas mehr geboten werden, gehört Roman Cathomas. Er ist zum Landwasserviadukt gekommen, um zu erzählen, wie diese Eisenbahnbrücke in Szene gesetzt werden soll. Der Landwasserviadukt ist eine spektakuläre Brücke in der Nähe von
Filisur, dem Nachbarort von Bergün. „Dieses Wahrzeichen hat das Potenzial, zu einem einzigartigen Ausflugs-ziel zu werden“, sagt Cathomas beim Treffen am Fuße der 65 Meter hohen Viaduktsäulen, unter denen der Gebirgsbach Landwasser an einem Picknickplatz vorbeirauscht. Cathomas arbeitet bei der Rhätischen Bahn als Produktmanager für die Welterbestätten und versichert, dass er nicht etwa eine Art Eisenbahn-disneyland in die Alpen setzen will. „Aber wir wollen das, was da ist, besser zeigen.“Etwa mit Touristenzügen, die über dem Viadukt hinund herpendeln, mit neuen Aussichtsplattformen und Wanderwegen und mit Nostalgiefahrten – die Rhätische Bahn hat noch alte „Krokodil“-lokomotiven, die man früher auf Schweizer Schienen oft gesehen hat, in ihren Lokschuppen stehen. Das Projekt soll ab 2023 umgesetzt werden. Mehr als elf Millionen Franken stehen bereit, um die Brücke ins rechte Licht zu rücken. Bislang gibt es ein Bähnchen, das Besucher über die Straße zum Viadukt bringt. An den Picknicktischen kann man sich per Qr-code informieren, wann der nächste Zug die Brücke passiert. Eine wichtige Information für Trainspotter und andere Fotografen.
Die Gegend um Bergün ist aber nicht nur für Bahnfans ein Ziel. Das zeigt sich bei einer Wanderung mit Niculin Josty ins Val Tours, ein Seitental des Albulatals. Josty ist Outdoor-guide und außerdem Geschäftsführer der Sesselbahn von Bergün hinauf an die Hänge des Piz Darlux. Im Winter gehört Bergün als Skigebiet zu den ganz kleinen Nummern
in Graubünden, erzählt Josty. Inzwischen hat sich der Ort als Ziel für Schlittenfahrer einen Namen gemacht. Im Sommer besteht wenig Gefahr, dass die Bergwanderer sich gegenseitig auf die Füße treten. „Wenn hier an einem sonnigen Sommerwochenende mal 30 bis 40 Wanderer langkommen an einem Tag, dann ist das schon viel“, erzählt Josty, Dabei ist die Szenerie beeindruckend: Auf dem Wanderweg von der Bergstation ins Val Tours hinein hat man den massiven Piz Kesch im Blick, mit 3418 Metern der höchste Gipfel der Albula-alpen. „Und da drüben sind Hirsche“, sagt Josty mit dem geübten Blick des Hobbyjägers. Er hat ein Fernglas mit Stativ dabei und richtet es auf die andere Talseite aus. Entlang des Weges wird er auch Murmeltiere und Gemsen finden.
Zurück in Bergün wartet am Ende noch ein Ziel für Menschen, die ein Faible für merkwürdige Rekorde haben: die „Bergbadi“. Die Leser der Bündner Regionalzeitung „Südostschweiz“haben das Schwimmbad nicht nur zur schönsten „Badi“Graubündens gekürt. Es wirbt dank seiner Lage auf 1400 Metern Seehöhe auch mit dem Titel des höchstgelegenen unbeheizten Freibades der Schweiz. Der Begriff der Sommerfrische bekommt so noch einmal eine ganz neue Bedeutung.
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Die Recherche wurde unterstützt von Schweiz Tourismus, Bergün Filisur Tourismus und der Schweizer Reisekasse Reka.