Doppeltes Problem für die Tafeln
Wegen Pandemie, Krieg und Inflation kommen mehr Bedürftige – Spenden gehen zurück
- Sie sind vielleicht so wichtig wie nie – und gleichzeitig ist ihre Situation extrem angespannt. Die Rede ist von den 962 Tafeln hierzulande, die von über 1,5 Millionen bedürftigen Menschen in Deutschland regelmäßig aufgesucht werden, um sich mit gespendeten Lebensmitteln zu versorgen. Ein Überblick, was ihre Situation so schwierig macht – und wie die Politik ihnen helfen könnte.
Warum spitzt sich die Lage der Tafeln zu?
„Wir erleben eine Krise, die auf eine Krise folgt“, sagt Sirkka Jendis im Gespräch. Schon die zwei Pandemiejahre seien eine große Herausforderung gewesen, weil einerseits mehr Menschen zur Tafel gekommen seien und andererseits viele Ehrenamtliche zur Risikogruppe gehörten, erklärt die Geschäftsführerin des Dachverbands Tafel Deutschland. So haben 40 Prozent der Tafeln in Deutschland zwischen 2020 und 2021 mehr Kunden verzeichnet. Die hohe Inflation und der Krieg in der Ukraine spitzen die Situation jetzt weiter zu. Doch das ist nicht alles. Die Tafeln „erleben ein doppeltes Problem, weil die Lebensmittelspenden zurückgegangen sind“, sagt Jendis. „Wenn Sie im Supermarkt leere Regale sehen, bedeutet das, dass auch die Tafeln weniger Lebensmittel bekommen.“Mehr Menschen müssen also mit weniger Spenden versorgt werden.
Welche Rolle spielen Geflüchtete aus der Ukraine?
Viele von ihnen suchen in Deutschland die Tafeln auf – teilweise, weil sie von anderen Geflüchteten den Tipp bekommen haben, teilweise aber auch, weil der Staat sie dazu auffordert. „Es gibt den Satz von den Behörden zu Geflüchteten: ‚Geh erst mal zu den Tafeln.‘ Das kann nicht sein, da nimmt der Staat seine Versorgungsaufgabe nicht wahr“, kritisiert Jendis. Auch wenn viele Ukrainerinnen zunächst in den großen Städten angekommen sind, ist deren Versorgung laut der Geschäftsführerin „eine gesamtdeutsche Herausforderung, auch für die Tafeln“.
Wie könnte der Gesetzgeber den Tafeln helfen?
„Wir wünschen uns eine strukturelle finanzielle Unterstützung vom Staat, damit wir in unsere Logistik investieren können – und langfristig mehr Lebensmittel retten“, sagt Jendis. Die Spd-fraktionsvize Dagmar Schmidt sagt, dass der Bund die Tafeln bereits mit der Übernahme von Personalkosten durch die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen unbensmittel. terstütze. „In Zukunft wollen wir vor allem Spenden von Supermärkten erleichtern und dafür sorgen, dass noch weniger Lebensmittel im Müll landen.“
Braucht man eigentlich einen Bedürftigkeitsnachweis, um Lebensmittel bei der Tafel zu erhalten?
Grundsätzlich muss man bedürftig sein, um von den Tafeln Lebensmittel zu bekommen. Wie sich die einzelnen Tafeln diese nachweisen lassen, ist aber ihnen überlassen. Jendis betont, dass „in den allermeisten Fällen gilt: Wer zur Tafel kommt, braucht Hilfe.“
Sind die Lebensmittel, die Bedürftige bei den Tafeln bekommen, über dem Mindesthaltbarkeitsdatum?
Die Tafeln „müssen Sorge tragen, dass wir nur einwandfreie, bedenkenlos zu verzehrende Produkte an die Kunden weitergeben“, sagt Jendis. Produkte, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) bereits erreicht oder überschritten ist, dürfen angenommen werden. Allerdings müssten dann zusätzliche Hygienevorschriften beachtet werden, wie eine gesonderte Lagerung und stichprobenartige Testung der Le„Nicht jede Tafel kann das leisten“, sagt Jendis. Das MHD ist trotzdem ein großes Thema für die Tafeln. „Wir wünschen uns da eine Bildungskampagne. Da geht es auch viel um Aufklärung – das habe ich an mir selbst gemerkt, bevor ich bei der Tafel aktiv war“, erläutert sie.
Verdecken die Tafeln Fehler in der Sozialpolitik?
„Seit fast drei Jahrzehnten verstetigen Tafeln Armut in Deutschland, indem sie in einem geschlossenen System Menschen mit Almosen in der Form von Sachspenden versorgen“, kritisiert der Soziologe Stefan Selke, Professor für gesellschaftlichen Wandel, der sich in seinem aktuellen Buch „Wunschland“mit der Rolle sozialer Utopien beschäftigt. Was auf den ersten Blick wie willkommene Hilfe aussehe, zeuge mittlerweile von einem schleichenden Zivilisationsbruch.
„Solange die Tafeln einigermaßen funktionieren“, sagt Selke, „flackert das politische Interesse an echter Armutsbekämpfung auf kleiner Flamme.“Jendis betont, dass die Tafeln zwar „liebend gerne helfen, aber: Es sollte sie nicht als Existenzhilfe geben müssen.“Die Spd-fraktionsvize
Schmidt verspricht, dass „vor dem Hintergrund steigernder Preise die Grundsicherungsleistungen neu berechnet“würden.
Kann der Lebensmittelhandel mehr tun?
2019 hat die Branche nach Angaben des Handelsverbands Lebensmittel (BVLH) 130 000 Tonnen Lebensmittel gespendet. „Das Spenden war nie, ist kein und sollte auch künftig in erster Linie nicht Selbstzweck sein“, sagt ein Bvlh-sprecher. Dass die Tafeln immer mehr Schwierigkeiten hätten, ihre Kunden ausreichend mit Lebensmittelspenden zu versorgen, liege neben der steigenden Zahl Bedürftiger auch daran, dass die Handelsunternehmen mithilfe verschiedener Maßnahmen die Menge der Lebensmittel reduziert hätten, die nicht mehr verkauft werden können, betont der BVLH.
„Diese eigentlich gute Entwicklung hat nun die ‚Nebenwirkung‘, dass sie zu den Versorgungsschwierigkeiten bei einigen Tafeln beiträgt.“Die Tafeln arbeiten an einem Digitalisierungsprojekt, um die Logistik zu vereinfachen. Eine höhere Standardisierung helfe auch dem Handel, sagt Jendis, nicht nur dem großen Discounter.