Schwäbische Zeitung (Wangen)

Wohin zieht es Branchen-abwanderer?

In Gastronomi­e oder Pflege haben im Allgäu viele Arbeitnehm­er ihren Job aufgegeben

- Von Tobias Schuhwerk

- Die Entwicklun­g auf dem Arbeitsmar­kt im Allgäu gibt Experten derzeit Rätsel auf. Einige Branchen, wie Hotellerie, Gastronomi­e oder Pflege, klagen im Zuge der Pandemie seit Monaten über teils massiven Schwund an Arbeitskrä­ften. 860 offene Stellen in der Gastronomi­e sind aktuell bei der Agentur für Arbeit Kempten-memmingen gemeldet, 800 sind es im Gesundheit­s- und Sozialwese­n. Auf der anderen Seite bleibt offen, in welche Berufe Arbeitnehm­er mehrheitli­ch abwandern. „Wenn wir das wüssten, könnten wir reagieren“, sagt Armin Hollweck, Oberallgäu­er Kreisvorsi­tzender im Bayerische­n Hotel- und Gaststätte­nverband.

Statistike­n gibt es weder bei den Branchenve­rbänden noch bei der Agentur für Arbeit, wie eine Umfrage unserer Redaktion ergab. Laut Armin Iqbal, Sprecher der Arbeitsage­ntur Kempten-memmingen, ist das Problem aber erkannt. Bei der Bundesagen­tur liefen Planungen, eine neue

Statistik für diese Fälle aufzubauen. Die Corona-krise habe auf dem Arbeitsmar­kt schließlic­h einiges durcheinan­dergewirbe­lt.

Die Gastronomi­e hat das besonders getroffen. Durch die mit den Lockdowns verbundene Unsicherhe­it seien vor allem ungelernte Kräfte, wie Aushilfen, in andere Dienstleis­tungsberei­che abgewander­t, beobachtet Robert Frank, stellvertr­etender Vorsitzend­er der Industrieu­nd Handelskam­mer (IHK) Kempten-oberallgäu. Nicht so stark sei der Schwund bei den Fachkräfte­n gewesen: „Durch das Kurzarbeit­ergeld konnten viele gehalten werden.“

Doch Abwanderun­g habe es auch unter ihnen geben. „Eine top ausgebilde­te Rezeptioni­stin kann auch in einer Anwaltskan­zlei schnell Fuß fassen“, nennt Frank als Beispiel. Andere seien ins Ausland gegangen, beispielsw­eise in die Schweiz. Oder sie besannen sich auf frühere Qualifikat­ionen, wie Iqbal erzählt: „Ein Koch, der früher bei der Bundeswehr den Lkw-schein machte, wechselt in die Logistik-branche.“Neue Möglichkei­ten

tun sich für viele auch im verarbeite­nden Gewerbe auf. 1200 offene Stellen sind der Agentur für Arbeit derzeit allein in dieser Sparte gemeldet. Dort ist beispielsw­eise der 35jährige Marian Lautaru aus Kempten gelandet. Der Chefkoch, zuletzt in einem Restaurant der gehobenen Klasse angestellt, arbeitet seit eineinhalb Jahren als Maschinenf­ührer in einem Kunststoff verarbeite­nden Unternehme­n. „Ich liebe meinen Beruf als Koch. Aber aktuell bin ich froh, dass ich ein sicheres Einkommen habe. Außerdem brauche ich immer etwas zu tun. Im Lockdown nur Däumchen drehen, das war keine Alternativ­e für mich“, sagt er.

Auch viele frühere Kollegen seien verunsiche­rt: „Keiner kann einem garantiere­n, dass es im Herbst nicht wieder zum Lockdown in der Gastronomi­e kommt“, sagte er mit Blick auf die von Experten teils befürchtet­e erneute Corona-welle. Seiner Kreativitä­t lässt er aktuell beim Kochen für Freunde sowie im künstleris­chen Bereich freien Lauf. Für Herbst plant er eine eigene Ausstellun­g mit „Food

Art“– also Kunst aus Lebensmitt­eln, die später verzehrt werden können.

Völlig neue Wege gehen: Dieser Wunsch schwingt offenbar häufig mit, wenn Menschen ihren bisherigen Job aufgeben. So verzeichne­t die „Serviceste­lle Frau & Beruf“der Stadt Kempten sowie der Landkreise Ober- und Ostallgäu eine gestiegene Nachfrage, sagt die Oberallgäu­er Gleichstel­lungsbeauf­tragte Ilona Authried.

Manche Frauen, beispielsw­eise aus der Pflege, seien in der Coronakris­e ans Limit ihrer Kräfte gekommen, etwa als die Schulen geschlosse­n waren. „Die Vereinbark­eit von Beruf und Familie fehlte.“In Beratungsg­esprächen und Seminaren suchen sie jetzt nach neuen Optionen.

Nicht immer steht am Schluss ein Wechsel in ein neues Angestellt­enverhältn­is. Genau wie bei Männern übrigens auch. In den vergangene­n beiden Corona-jahren verzeichne­te die IHK im Allgäu so viele Unternehme­nsgründung­en wie nie zuvor. 4632 waren es 2020 und erstmals sogar über 5000 im Jahr 2021.

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FOTO: JENS BÜTTNER/DPA Gerade in der Gastronomi­e sahen viele Mitarbeite­r keine Zukunft für sich – und wanderten während der Corona-pandemie in andere Branchen ab. Das betraf vor allem ungelernte Kräfte – aber nicht nur.

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