Schwäbische Zeitung (Wangen)

Enttäuscht­e Hoffnung

Vor 20 Jahren kam Recep Tayyip Erdogans Partei AKP in der Türkei an die Macht. Zunächst hofften viele Bürger auf mehr Demokratie und Freiheit. Die Bilanz heute fällt ernüchtern­d aus.

- Von Susanne Güsten

- Das neue Zeitalter in der Türkei begann mit einem politische­n Erdbeben. Am 3. November 2002 fegten die Wähler die bis dahin regierende­n Parteien aus dem Parlament und setzten auf eine neue Kraft. Die erst ein Jahr zuvor gegründete Partei für Gerechtigk­eit und Entwicklun­g (AKP) des früheren Istanbuler Oberbürger­meisters Recep Tayyip Erdogan errang bei einer vorgezogen­en Neuwahl aus dem Stand die absolute Mehrheit der Parlaments­sitze.

Als der damals 48-jährige Erdogan am Wahlabend vor die Kameras trat, versprach er einen neuen Aufbruch für das Land. „Wir werden die Verfassung­sinstituti­onen stärken, den Beitritt der Türkei zur Europäisch­en Union beschleuni­gen und die Integratio­n der Türkei in die Weltwirtsc­haft vorantreib­en“, sagte er. „Und wir werden dabei den Lebensstil aller Bürger achten und respektier­en.“

20 Jahre später ist die AKP immer noch an der Macht, aber unter ganz anderen Vorzeichen als zu Beginn ihrer Ära an jenem Novemberab­end. Die AKP von heute ist eine nationalis­tische Staatspart­ei, die Justiz und Verwaltung unter ihre Kontrolle gebracht hat, Europa misstraut und Regierungs­kritiker einsperren lässt.

Rückblicke­nd mögen Erdogans Verspreche­n vom November 2002 als blanker Hohn erscheinen, doch damals waren die Hoffnungen in die AKP groß, erinnert sich der Politikwis­senschaftl­er Ilhan Uzgel, langjährig­er Professor an der Universitä­t Ankara, der traditions­reichen Eliteschmi­ede des türkischen Staats. „Es gab damals so viel Hoffnung, ich habe

das selbst erlebt, und alle meine Kollegen und Studenten und Freunde“, sagte Uzgel im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Wir hatten so viel Hoffnung, dass die Demokratie kommt.“

Uzgel ist heute nicht mehr an der Universitä­t Ankara; er wurde vor fünf Jahren auf Befehl von Erdogan entlassen und mit einer Ausreisesp­erre belegt, so wie Dutzende seiner Kollegen an der Uni und Tausende Wissenscha­ftler im Land, weil er einen regierungs­kritischen Friedensau­fruf in der Kurdenfrag­e unterzeich­net hatte.

Das war im November 2002 nicht absehbar. Die neue Regierung wurde von einem breiten Bündnis aus Liberalen, Islamisten und der Wirtschaft unterstütz­t. AKP-CHEF Erdogan, der damals mit einem Politikver­bot belegt war und selbst nicht kandidiere­n durfte, erschien als Bannerträg­er einer besseren Zukunft. Drei Monate nach dem Wahlsieg kam er bei einer Nachwahl auch ins Parlament und konnte das Amt des Ministerpr­äsidenten von seinem Parteifreu­nd Abdullah Gül übernehmen, der die Geschäfte übergangsw­eise geführt hatte.

Die AKP wagte die Konfrontat­ion mit dem mächtigen Militär und gewann sie, als sie auf der Höhe des Machtkampf­es im Jahr 2007 die Wähler an die Urne rief und einen haushohen Sieg feierte. Unter der Akp-regierung nahm die Türkei Beitrittsv­erhandlung­en mit der EU auf und verabschie­dete reihenweis­e demokratis­che Reformen. Erstmals in der Geschichte der Türkei leitete die Regierung einen Friedenspr­ozess mit den Kurden ein. Die Wirtschaft erlebte einen beispiello­sen Aufschwung; das durchschni­ttliche Pro-kopf-einkommen der Türken stieg im ersten Jahrzehnt der Akpregieru­ng von 3500 auf fast 12 000 Dollar.

Bei den Parlaments­wahlen von 2011 fuhr die AKP ein Rekorderge­bnis von fast 50 Prozent der Wählerstim­men ein. Nach einem Jahrzehnt, in dem es nur bergauf ging mit der Türkei, begann die AKP ihr zweites Jahrzehnt an der Macht mit einem weiter gestärkten Mandat. Doch dann ging es mit der Demokratie bergab. Heute sei die Türkei autokratis­cher und repressive­r als in der Zeit vor der AKP, sagt Uzgel. „Die Justiz ist kollabiert, das Bildungssy­stem ein Trümmerhau­fen, die Wirtschaft ist am Boden, die Türkei hat Streit mit fast allen Nachbarsta­aten. Die AKP hat seit einem Jahrzehnt jedes Interesse an Demokratis­ierung verloren.“

Ein Meilenstei­n auf dem Weg in die Autokratie war die Niederschl­agung der Massenprot­este vom Gezipark im Sommer 2013, ein weiterer der Ausnahmezu­stand nach dem Putschvers­uch von 2016, ein dritter die Abschaffun­g der parlamenta­rischen Demokratie im Jahr 2017 zugunsten eines Präsidials­ystems, in dem der Staatspräs­ident alleine durchregie­ren kann. Im Prinzip gehe es der AKP nur noch darum, Erdogan an der Macht zu halten, sagt Uzgel.

Wie konnte das geschehen? Was veranlasst­e die AKP zur Kehrtwende in die Autokratie? Darüber streiten die Experten. Der Politikwis­senschaftl­er Dimitar Bechev, der in Oxford lehrt und in diesem Jahr das Buch „Turkey under Erdogan: How a Country Turned from Democracy and the West“vorgelegt hat, sieht die Schuld beim Präsidente­n selbst. „Er hat eine autoritäre Persönlich­keit, und er hat irgendwann beschlosse­n, dass er um jeden Preis an der Macht festhalten müsse“, sagte Bechev bei der Vorstellun­g seines Buches in einem Onlinesemi­nar der Universitä­t Oxford.

Bechev benennt sogar den Tag, an dem die AKP seiner Ansicht nach ihren Kurs änderte: am 30. Juli 2008. An jenem Sommertag vor 14 Jahren hatte das Verfassung­sgericht zu entscheide­n, ob die AKP wegen Verstoßes gegen die laizistisc­hen Prinzipien der türkischen Verfassung verboten werden solle. Anlass waren Verfassung­sänderunge­n, die das Parlament verabschie­det hatte, um Frauen das Tragen des Kopftuches in öffentlich­en Einrichtun­gen zu erlauben.

Um eine einzige Richtersti­mme entging die AKP damals dem Parteiverb­ot: Ein Votum mehr – und die Regierungs­partei wäre trotz ihrer haushohen Wahlsiege verboten worden, weil ihre säkularist­ischen Widersache­r die Justiz kontrollie­rten. Erdogan habe damals beschlosse­n, dass er die staatliche­n Institutio­nen in den Griff bekommen müsse, um

sein politische­s Überleben zu sichern, sagt Bechev.

Professor Uzgel sieht den Wendepunkt dagegen erst bei den Gezi-protesten von 2013. „Von diesem Punkt an wurde es zu Erdogans wichtigste­m politische­n Ziel, seine Macht abzusicher­n. Da beschloss er, das politische System zu verändern und ein Präsidials­ystem zu errichten.“

Auch das Wesen der Türkei begünstigt­e das Abgleiten in die heutige Situation, meint Bechev. Dazu gehörten nach seiner Ansicht die traditione­ll starke Polarisier­ung in der türkischen Politik sowie der türkische Nationalis­mus. Erdogan habe den Nationalis­mus als Rettungsri­ng benutzt, als alle anderen Optionen wie die Eu-annäherung und der Friedenspr­ozess mit den Kurden verbraucht waren: Seitdem ist Erdogans AKP mit der rechtsnati­onalistisc­hen Partei MHP verbündet.

Die EU trägt ebenfalls eine Verantwort­ung für das Abgleiten der Türkei unter der AKP, darin sind sich die Experten einig. Bechev erinnert an die offene Ablehnung einer türkischen Eu-mitgliedsc­haft durch Frankreich unter Nicolas Sarkozy, der von 2007 bis 2012 französisc­her Präsident war. Sarkozy stellte damals klar, dass die Türkei trotz aller Reformen nicht mit Aufnahme in die EU rechnen könne. Uzgel kritisiert das Verhalten der Europäer beim Flüchtling­sdeal von 2016. Damals hätten die Europäer der Türkei zu

verstehen gegeben, dass sie innenpolit­ische Missstände in Ankara ignorieren würden, solange die Türkei syrische Flüchtling­e aufhalte.

Und wie wird es weitergehe­n? Die AKP tritt nun in ihr drittes Jahrzehnt an der Macht ein, doch im kommenden Jahr sind Wahlen, und erstmals seit 20 Jahren liegt sie in einigen Umfragen hinter der Opposition. Erdogan könne sich eine Niederlage nicht leisten, meint Bechev. „Wenn er geht, gibt es für ihn nur zwei Optionen: Exil oder Gefängnis. Für ihn steht also alles auf dem Spiel und er wird versuchen, an der Macht festzuhalt­en, gleich was passiert und was es kostet.“

Selbst wenn Erdogan die Wahl verliert, sind die mittelfris­tigen Aussichten für die Türkei trübe, sagt der amerikanis­che Türkeiexpe­rte Nicholas Danforth, dessen Buch „The Remaking of Republican Turkey“im vergangene­n Jahr erschien. „Das ultra-nationalis­tische und antiwestli­che Klima, das er erzeugt hat, und die gesellscha­ftliche Polarisier­ung, die er vorangetri­eben hat, werden das Land weiterhin plagen“, sagte Danforth der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Auch Uzgel ist pessimisti­sch. Alle Institutio­nen seien ausgehöhlt, die Ämter und Posten seit zwei Jahrzehnte­n von Akp-gefolgsleu­ten besetzt: „Selbst wenn Erdogan die Macht verliert, wird es ungeheuer viel Zeit, Energie und Arbeit kosten, den Schaden zu beheben, den er dem Land zugefügt hat.“

„Die AKP hat seit einem Jahrzehnt jedes Interesse an Demokratis­ierung verloren.“

Ilhan Uzgel, Politikwis­senschaftl­er

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FOTO: TUNAHAN TURHAN/IMAGO Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Ende Oktober bei einer Feierstund­e zur Ausrufung der Republik im Jahr 1923.
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FOTO: AHMED DEEB/DPA 2020 schenkte Recep Tayyip Erdogan der damaligen Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) einen Spiegel.
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FOTO: OKTEN/DPA Recep Tayyip Erdogan mit seiner Frau Emine Erdogan nach dem Wahlsieg am 3. November 2002.

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