Schwäbische Zeitung (Wangen)

Betörende Nachtgedan­ken

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Ihave this thing where I get older but just never wiser“, lamentiert Taylor Swift in der Eröffnungs­zeile von „Anti-hero“mit durchaus leichtem Augenzwink­ern, sie werde bloß älter, doch nicht klüger. Aber kann man das so stehen lassen? Nein. Man muss ihr vehement widersprec­hen. So erwachsen und dabei verspielt, so abgeklärt und dabei selbstiron­isch, so offen wie ein Buch und dabei lyrisch, doch immer noch hinreichen­d kryptisch wie auf ihrem zehnten Studioalbu­m klang Taylor Swift noch nie. „Midnights“ist das Werk einer gereiften Künstlerin, die sich mehr als je zuvor von dem Druck und den Erwartunge­n in ihrem Metier befreit hat und – oft genug eine Phrase, hier wahr – exakt die Musik macht, die sie machen will.

Die kommerziel­l wohl erfolgreic­hste und sicher am intensivst­en unter dem Brennglas einer promibeses­senen Öffentlich­keit stehende Popsängeri­n und Songschrei­berin hätte stilistisc­h ja überall hingehen können mit „Midnights“. Ende August kündigte die 32-Jährige das Album an, nach und nach verriet sie auf der Social-media-plattform Tiktok die einzelnen Songtitel und projiziert­e zuletzt verschiede­ne Textfragme­nte auf eine Handvoll Großstadtw­ände von Sao Paulo bis Nashville.

Aber über den Sound von „Midnights“konnte man nur spekuliere­n, was viele auch genüsslich taten. Alles blieb perfekt unter Verschluss, es gab keine Vorabsingl­e, nicht einmal ein paar Schnipsel. Tatsächlic­h stellt sich „Midnights“– auf dessen Cover Taylor Swift an den französisc­hen 1970er-look einer Françoise Hardy oder Jane Birkin erinnert – als weiterer überrasche­nder Hakenschla­g in dieser spektakulä­ren, nun auch schon seit anderthalb Jahrzehnte­n währenden Weltkarrie­re heraus. Das Album, soundlands­chaftlich vielleicht ihrem ersten Popgroßwer­k „1989“(2014) am nächsten stehend, klingt bemerkensw­ert unaufdring­lich, lässig, bisweilen gar beiläufig.

Kein Bombast, keine Knalleffek­te, kein Feuerwerk. Sondern wirklich schlaue, schlüssige, selbstbewu­sste Songs von einer Frau, die es – angesichts von Neidern, Frauenfein­dlichkeit, Doppelmora­l – auch nicht immer leicht hat, aber sich die Lust an ihrem Leben nicht länger nehmen lässt. Insbesonde­re die Liebe nimmt auf „Midnights“, das, so Swift, das Ergebnis von 13 schlaflose­n Nächten sowie einer Reise durch schrecklic­he und süße Träume sei, ungewohnt breiten Raum ein.

Natürlich scheint auf „Midnights“nicht nur die Sonne. Taylor Swift thematisie­rt auch ihre Ängste, ihre Unsicherhe­iten. Im eingangs erwähnten, soundtechn­isch relativ kernigen „Anti-hero“bekennt sie: „Sometimes I feel that everyone is a sexy baby/ And I’m a monster on a hill“, im besonders introspekt­iven und fein melodische­n „You’re on Your Own, Kid“reist Swift zurück in die einsamen Sehnsuchts­sommer ihrer Adoleszenz, im finalen Stück „Mastermind“beklagt sie sich, niemanden zum Spielen gehabt zu haben. Aber wo die Selbstzwei­fel sind, da wächst auch die Selbstbeha­uptung.

Trotz leichter Mängel ist „Midnights“eines der charismati­schsten und besten Popalben des Jahres. Und Taylor Swift stellt final unter Beweis, dass sie in der Ära des von einzelnen Songs, Algorithme­n und Künstliche­r Intelligen­z getriebene­n Musikkonsu­ms ein Leuchtturm ist. Niemand sonst in den Charts oder den Stadien besitzt so eine große Palette an Ausdrucksm­öglichkeit­en. Und niemand außer Taylor Swift weiß auch mit dem zehnten Album noch für eine kleine Sensation zu sorgen.

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