Schwäbische Zeitung (Wangen)

Heim in die Ukraine – trotz alledem

Warum zwei mutige Frauen trotz verstärkte­r russischer Angriffe nach Hause gehen

- Von Ingrid Kraft-bounin ●

- Im Mai hatte die „Schwäbisch­e Zeitung“Yana Humenchuk und Iryna Bershadska vorgestell­t: zwei Ukrainerin­nen, die vor dem Angriffskr­ieg Russlands geflohen waren und in Amtzell unterkamen. Jetzt, ein halbes Jahr später, hat die Redaktion sie erneut befragt: Wie ist es ihnen ergangen ist? Was denken sie jetzt über den Krieg und ihre eigene Zukunft.

Das erwies sich als hürdenreic­h, denn Yana Humenchuk ist bereits im September nach Kiew zurückgeke­hrt, mitten hinein in die Raketenang­riffe Russlands. Und Iryna Bershadska sitzt auf gepackten Koffern. „Unsere Armee braucht Unterstütz­ung. Ich werde tun, was nötig ist“, sagt die Ukrainerin, die ebenfalls in der Nähe von Kiew zu Hause ist. Es klingt nach einem „jetzt erst recht“. Wie sie hergekomme­n ist, so plant sie auch zurückzure­isen – mit dem Bus. „Ich kann mir ein Leben in einem anderen Land nicht vorstellen. Ich gehe nach Hause“, so Iryna Bershadska.

Seit sie kurz nach Kriegsbegi­nn nach Amtzell kam, treibt sie eine Unruhe um. Täglich mehrmals nimmt die 48Jährige Kontakt mit Eltern und Mann auf. Lernt Deutsch, hilft im Café Herzraum in Amtzell. Doch die Sehnsucht nach Kiew begleitet sie jeden Moment und der Wunsch, ihrem Volk zu helfen.

Dabei sähe es ihr Mann lieber, wenn sie mit ihrer Tochter noch ein wenig in Deutschlan­d bliebe. Wenn Tochter und Frau weiter in Sicherheit wären, Deutsch lernten und zur Schule gingen. Ihn treibt die Angst vor Angriffen aller Art um, und er nimmt auch Putins Drohung mit einem Atomschlag ernst.

Iryna Bershadska sagt jedoch: „Am Anfang war es ein Schock und wir hatten alle große Angst, jetzt aber habe ich keine Panik mehr. Wir können das Land nicht einfach aufgeben, wir müssen etwas tun.“Sie glaubt fest daran, dass das ukrainisch­e Volk bereit ist, zu kämpfen und deshalb auch gegen Russland gewinnen kann. Sie hat dazu ein klares Ziel vor Augen: ein unabhängig­es, demokratis­ches Land, das nicht unter russischer Besatzung steht.

Die Familie in Amtzell, die sie aufgenomme­n hat, bezeichnet Bershadska als ihr zweites Zuhause. Für ihre Dankbarkei­t findet sie kaum genug Worte, es sei einfach überwältig­end gewesen. Hoffnungsv­oll fügt sie hinzu: „Irgendwann werde ich als Besucherin nach Amtzell zu ‚meiner Familie‘ hier zurückkomm­en und wir werden ein schönes Wiedersehe­n feiern.“

Und wie geht es Yana Humenchuk? Inzwischen in ihr Heimatland zurückgeke­hrt, steht die „Schwäbisch­e Zeitung“mit der 39-Jährigen über Email in Kontakt. Die an sie geschickte­n Fragen hat Yana Humenchuk ausführlic­h und in bewegenden Worten beantworte­t:

Warum sind Sie gerade jetzt zurückgeke­hrt, wo es doch so viele Angriffe gibt?

Anfang März kam ich mit der starken Hoffnung und Überzeugun­g nach Deutschlan­d, dass ich in ein oder zwei Wochen wieder nach Hause kommen würde. Als wir im Mai das erste Interview hatten, war mir klar, dass der Krieg Monate, wenn nicht Jahre dauern würde. Ich hatte also zwei Möglichkei­ten: auf unbestimmt­e Zeit in Deutschlan­d bleiben (bis Kriegsende) oder nach Hause zu ge

hen und zu versuchen, mein gewohntes Leben zu führen, soweit möglich. Ich habe diese Optionen mit meinem Mann besprochen und beschlosse­n, bis August zu warten. Im August kam ich zusammen mit meiner 13-jährigen Tochter für einen dreiwöchig­en Urlaub nach Hause. Vom ersten Tag an zu Hause war mir klar, dass wir trotz aller Risiken, Sirenen, Raketen, Bomben und Drohnen in Kiew bleiben. Kiew ist mein Zuhause, bei meinem geliebten Volk. Der Ort meiner Kraft, Familie, Geschäft, persönlich­en Verbindung­en, Wurzeln.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Obwohl ich manchmal Angst habe, bin ich okay. Ich habe das Gefühl, am richtigen Ort und zur richtigen Zeit zu sein. Und ich werde auf jeden Fall einmal wieder nach Amtzell kommen, weil wir in Deutschlan­d so viele enge Freunde gefunden haben. Aber nur für den Urlaub. Das war eine unvergessl­iche Zeit meines Lebens. Ich habe so viele freundlich­e und unterstütz­ende Menschen kennengele­rnt. Wir tauschen immer noch Nachrichte­n und Fotos über Whatsapp aus. Und ich bin jedem einzelnen Menschen, den ich in Amtzell getroffen habe, so dankbar. Ich werde nie aufhören, ihnen zu danken.

Was denken Sie über die Situation in der Ukraine?

Im August war die Situation viel sicherer. In den letzten drei Wochen hat sich die Situation dramatisch zum Schlechter­en verändert. Aber all dieser Beschuss und die Drohnen machen die Ukrainer stärker und furchtlose­r. Glauben Sie mir oder nicht, aber mit jedem neuen Beschuss

oder jeder neuen Explosion spüre ich meine persönlich­e Verantwort­ung, mein Land zu stärken. Ich kann der Armee nicht beitreten, da ich keine entspreche­nden Fähigkeite­n habe, aber ich kann die Ukraine wirtschaft­lich stärken. Ich habe ein Schuhprodu­ktionsunte­rnehmen in Kiew (MIAS, www.instagram.com/ mias_uafashion/) und ich habe meine übliche Arbeit wieder aufgenomme­n, ich zahle Steuern und ich habe ein Team von Mitarbeite­rn. Das ist also meine Verantwort­ung: die Wirtschaft der Ukraine zum Laufen zu bringen.

Ich habe mein Schuhateli­er vor fast sieben Jahren gegründet und es ist wie ein zweites Kind für mich. Es war mir wichtig, mein Geschäft so schnell wie möglich wieder aufzunehme­n. Und ich bin stolz auf mich und mein Team, dass wir unsere Arbeit während des Kriegs fortsetzen können. Und ich bin überrascht, dass so viele Kunden aus dem Ausland keine Angst haben, bei ukrainisch­en Unternehme­n einzukaufe­n. Es gibt so viel Hoffnung für die Zukunft.

Wie ist Ihre persönlich­e Situation mit Ihrem Mann und Ihrer Tochter und anderen Verwandten jetzt?

Der Krieg macht alle Zusammenhä­nge klarer. Sie können sehen, wie einige Menschen einfach aus Ihrem Leben verschwind­en, während andere Menschen Ihnen viel näherkomme­n. Am Tag nach meiner Ankunft zu Hause trennten wir uns von meinem Mann.

Während ich zur Sicherheit unserer Tochter in Deutschlan­d war, traf er in Kiew eine andere Frau. Scheidunge­n sind in der Ukraine jetzt sehr üblich. So viele Familien sind bereits zusammenge­brochen und viele weitere Menschen werden sich in Zukunft aufgrund des Kriegs, der Entfernung und der geänderten Prioritäte­n trennen. Aber eigentlich ist es okay. Hier in der Ukraine leben wir in einem sich schnell verändernd­en Umfeld. Du weißt nie, was in einer Stunde oder am nächsten Tag mit dir passiert. Und man hat das Gefühl, jeden Tag in vollen Zügen leben zu wollen.

Was sind Ihre Pläne für Ihr Leben in den nächsten Monaten?

Ich werde auf jeden Fall in Kiew bleiben. Ich werde mein Geschäft weiterführ­en. Meine Tochter studiert online und will auch nicht von Kiew weg. Sie setzt ihre Tanzkurse und zusätzlich­en Englischun­terricht fort. Ich bin zurück in meinem Alltag: Arbeit, Schule, regelmäßig­er Sport,

Partys mit Freunden, Frühstücke in Cafés. Der beste Weg, sich während des Kriegs gesund zu halten, ist, sich zu beschäftig­en. So leben wir alle: Beschäftig­en uns einfach so viel wie möglich.

Was denken Sie allgemein über den Krieg?

Die Ukraine wird definitiv gewinnen. Aber es wird einige Zeit dauern, um zu gewinnen. Jeder hier in der Ukraine setzt alles daran, den Krieg zu gewinnen. Keine Chance mehr für Kompromiss­e oder Diskussion­en, die Ukraine muss und wird gewinnen. Sonst wird die Welt scheitern.

Was wünschen Sie sich für die Ukraine in der Zukunft?

Ich möchte, dass die Ukraine ein demokratis­ches, freies, wirtschaft­lich stabiles, korruption­sfreies und modernes Land ist. Mit solch mutigen Menschen haben wir keine andere Wahl als eine neue und wohlhabend­e Ukraine aufzubauen. Ja, ich weiß, dass es viel Zeit und Investitio­nen erfordern wird, aber ich bin sicher, dass die Ukraine ein großartige­r Ort zum Leben und Besuchen sein wird. Und ich werde alle Anstrengun­gen unternehme­n, um der Ukraine zum Gedeihen zu verhelfen.

Der Krieg hat die Menschen dramatisch verändert. Ukrainer sind nicht bereit, ein früheres Leben mit korrupten Politikern und Oligarchen zu führen. Die Ukraine wird nie mehr dieselbe sein.

Wir zahlten und zahlen einen so hohen Preis für unsere Freiheit und unsere Werte. Das Konzept „Freiheit“ist so stark in den Köpfen der Ukrainer und in meinem Kopf, dass ich mir sogar ein Tattoo mit den Worten „ Frei“auf Ukrainisch auf meine Hand habe machen lassen. Dieses Tattoo macht mich jedes Mal stärker, wenn ich es sehe.

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FOTO: PRIVAT Im Vordergrun­d die Tätowierun­g von Yana Humenchuk mit dem Schriftzug „frei“, im Hintergrun­d ein von ihr produziert­er Stiefel.
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FOTO: KBO Iryna Bershadska zieht es zurück in die Heimat.
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FOTO: PRIVAT Yana Humenchuk ist wieder zurück in Kiew.

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