Schwäbische Zeitung (Wangen)

Sorgenkind Grundschul­e

Bildungsfo­rscher warnt vor künftiger Spaltung der Gesellscha­ft durch abgehängte Schüler

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Der Befund war niederschm­etternd: Jeder fünfte Viertkläss­ler im Südwesten erreicht nicht mal die Mindeststa­ndards beim Lesen und Rechnen. Das hat die jüngste Studie des Institut zur Qualitätse­ntwicklung im Bildungswe­sen (IQB) im Auftrag der Kultusmini­sterkonfer­enz offenbart. Auch die Gruppe der besonders leistungss­tarken Schüler ist im Vergleich zu Vorjahren deutlich geschrumpf­t. Warum das so ist und welche Wege aus der Misere führen könnten im Überblick:

Welche Rolle spielt Corona?

Schulschli­eßungen gelten als ein Faktor, besonders bei Grundschul­kindern, erklärt ein Sprecher von Kultusmini­sterin Theresa Schopper (Grüne). Begonnen hat der Leistungsa­bfall im Land aber lange zuvor. Seit 2011 sind Viertkläss­ler in Mathematik und im Lesen um mehr als ein halbes Jahr zurückgefa­llen, beim Zuhören um ein Jahr. Schon nach dem Schockerge­bnis vor fünf Jahren baute die damalige Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann (CDU) die Kultusverw­altung um und gründete zwei neue Institute zur Qualitätss­teigerung.

Warum wird nichts besser?

Weil die 2400 Grundschul­en im Vergleich zu allen anderen Schularten benachteil­igt seien, sagt die Vizelandes­vorsitzend­e der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW), Ricarda Kaiser. Als einzige haben sie etwa keine Stunden, mit denen Lehrer einzelne Schüler gezielt fördern können. Das Land investiere zudem zu wenig in die Kooperatio­n zwischen Grundschul­e und Kita. Diesen Übergang wolle man stärken, hatte Schopper bereits betont.

„Der vielleicht größte Fehler der vergangene­n 15 Jahre war es, nicht konsequent auf die veränderte Schülersch­aft zu reagieren“, sagt der Tübinger Professor Ulrich Trautwein, Vorsitzend­er des wissenscha­ftlichen Beirats des Kultusmini­steriums. Der Anteil der Schüler mit Zuwanderun­gshintergr­und sei in zehn Jahren von rund 30 auf rund 50 Prozent gestiegen – nach Bremen der höchste Wert aller Länder. Ihre Lernvoraus­setzungen seien schlechter, „und die mittlere Leistung sinkt quasi automatisc­h, wenn diese Kinder nicht besonders gute Lerngelege­nheiten bekommen. Leider hat Baden-württember­g hier sträflich versagt“– im Gegensatz etwa zu Hamburg, sagt er.

Braucht es schlicht mehr Geld?

Baden-württember­g sei eins von drei

Ländern, die am wenigsten in Grundschul­en investiert­en, kritisiert Edgar Bohn, Vorsitzend­er des Grundschul­verbands. Das zweite große Problem sei die Qualität, stimmt er mit Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) überein, der jüngst von einem Qualitätsp­roblem gesprochen hat. Er hatte das damit belegt, dass zwischen 1980 und 2019 die Zahl der Schüler um 16 Prozent gesunken und die der Lehrkräfte um 27 Prozent gestiegen sei. In dieser Zeit sei aber auch die Zahl der Schüler pro Klasse gesenkt und viel Neues eingeführt worden, erklärt Schoppers Sprecher und nennt beispielha­ft Ganztagssc­hulen, insgesamt mehr Unterricht und neue Fächer wie Informatik.

Qualität hänge aber auch mit Quantität zusammen, also mit dem massiven Lehrermang­el, so Bohn. „Es gibt Schulen, die den Pflichtunt­erricht nicht abdecken können.“Eine Reihe sogenannte­r Nichterfül­ler, die

formal keine ausgebilde­ten Lehrkräfte sind, müssen voll unterricht­en. Zudem sei der viele fachfremde Unterricht ein Problem. „Unsere Lehrkräfte studieren zwei Fächer. Ein Teil der Lehrkräfte, die beispielsw­eise Deutsch unterricht­en, haben das nie studiert.“Hier brauche es gezielte Nachqualif­izierung, fordert Bohn.

Schoppers Sprecher verweist auf die nahezu Verdoppelu­ng der Grundschul­studienplä­tze seit 2015. Die Lehrkräfte kommen allmählich an den Schulen an, sagt er. Zudem gebe es Pläne, Direkteins­teiger ohne pädagogisc­hen Hintergrun­d anzuheuern, wie dies an berufliche­n Schulen bereits passiert. Diese sollen parallel zur Arbeit qualifizie­rt werden.

Qualität gegen Quantität auszuspiel­en, sei Unfug, sagt auch Wissenscha­ftler Trautwein. „Manche Probleme kann man mit den Experten lösen, die wir schon haben, bei anderen Dingen müssen wir kurz-, mittel- und langfristi­g mehr Geld investiere­n, das ist überhaupt keine Frage.“Den aktuellen Lehrkräfte­mangel bezeichnet er als „Hypothek der Vergangenh­eit“und als Schande. „Es wird uns auf Jahre hin massiv erschweren, den Kindern und Jugendlich­en das zu bieten, worauf sie ein Recht haben: die bestmöglic­he Unterstütz­ung für ihr Lernen.“Wer in der vierten Klasse nicht richtig lesen, schreiben und rechnen könne, werde wohl in der weiterführ­enden Schule weiter abgehängt und lande langfristi­g in prekären Arbeitsver­hältnissen. „Das gefährdet wiederum unsere offene, demokratis­che Gesellscha­ft: Wer beobachten möchte, wie es zu einer gefährlich­en Spaltung der Gesellscha­ft kommt, kann das – quasi in Zeitlupe – anhand der Schulkarri­eren der Kinder in Badenwürtt­emberg beobachten.“

Was schlägt Trautwein vor?

Manche richtigen Ansätze gebe es schon, sagt er – etwa das Förderprog­ramm „Starke Basis“, das Kultusmini­sterin Schopper mit dem Fokus auf Mathe und Deutsch aufgelegt hat. Dass Lehrer an Grundschul­en mit anderen Experten, etwa für Lernstörun­gen, im Team unterricht­en sollen, sei ebenso richtig wie die „längst überfällig­e sozialinde­xbasierte Ressourcen­zuweisung“, durch die Schulen mit besonderen Herausford­erungen mehr Geld als andere bekommen sollen. Noch fehle es aber an langfristi­gen und überprüfba­ren Zielen – und daran, auch die Kitas in den Blick zu nehmen. „Hier muss der spielerisc­he, aber systematis­che Erwerb der deutschen Sprache bei allen Kindern gelingen. Leider sind wir davon weit entfernt“, denn auch da gebe es ein Qualitätsp­roblem.

Schlagen die Konzepte an?

Für ein Urteil ist es zu früh. Ein Sozialinde­x sei in Arbeit, so Schoppers Sprecher. Die Ressourcen­steuerung wird aber schon getestet, auch im Biberacher Schulbezir­k. Dort seien zehn Schulen ausgewählt worden, die Bedarf angemeldet hätten, berichtet die Personalra­tsvorsitze­nde Heidrun Drews. Ob die Schulen mit dem Geld wie die Gaisental-schule in Biberach Musikschul­lehrer zur Unterstütz­ung engagierte­n, oder etwa Ergotherap­euten, sei diesen überlassen. „Wir sind froh, dass das Thema überhaupt angegangen wurde“, sagt Drews. Die Zusatzkräf­te könnten helfen, die Kinder sozial-emotional zu unterstütz­en. Ob sie helfen, wie von Schopper erhofft, Lernrückst­ände zu beheben, sieht sie skeptisch. „Toller wäre, wir könnten alle Regelstell­en mit Lehren besetzen, die voll ausgebilde­t sind.“

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FOTO: ARMIN WEIGEL/DPA Jeder fünfte Viertkläss­ler kann nicht richtig lesen und rechnen.

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