Sorgenkind Grundschule
Bildungsforscher warnt vor künftiger Spaltung der Gesellschaft durch abgehängte Schüler
STUTTGART - Der Befund war niederschmetternd: Jeder fünfte Viertklässler im Südwesten erreicht nicht mal die Mindeststandards beim Lesen und Rechnen. Das hat die jüngste Studie des Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Auftrag der Kultusministerkonferenz offenbart. Auch die Gruppe der besonders leistungsstarken Schüler ist im Vergleich zu Vorjahren deutlich geschrumpft. Warum das so ist und welche Wege aus der Misere führen könnten im Überblick:
Welche Rolle spielt Corona?
Schulschließungen gelten als ein Faktor, besonders bei Grundschulkindern, erklärt ein Sprecher von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne). Begonnen hat der Leistungsabfall im Land aber lange zuvor. Seit 2011 sind Viertklässler in Mathematik und im Lesen um mehr als ein halbes Jahr zurückgefallen, beim Zuhören um ein Jahr. Schon nach dem Schockergebnis vor fünf Jahren baute die damalige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) die Kultusverwaltung um und gründete zwei neue Institute zur Qualitätssteigerung.
Warum wird nichts besser?
Weil die 2400 Grundschulen im Vergleich zu allen anderen Schularten benachteiligt seien, sagt die Vizelandesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ricarda Kaiser. Als einzige haben sie etwa keine Stunden, mit denen Lehrer einzelne Schüler gezielt fördern können. Das Land investiere zudem zu wenig in die Kooperation zwischen Grundschule und Kita. Diesen Übergang wolle man stärken, hatte Schopper bereits betont.
„Der vielleicht größte Fehler der vergangenen 15 Jahre war es, nicht konsequent auf die veränderte Schülerschaft zu reagieren“, sagt der Tübinger Professor Ulrich Trautwein, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Kultusministeriums. Der Anteil der Schüler mit Zuwanderungshintergrund sei in zehn Jahren von rund 30 auf rund 50 Prozent gestiegen – nach Bremen der höchste Wert aller Länder. Ihre Lernvoraussetzungen seien schlechter, „und die mittlere Leistung sinkt quasi automatisch, wenn diese Kinder nicht besonders gute Lerngelegenheiten bekommen. Leider hat Baden-württemberg hier sträflich versagt“– im Gegensatz etwa zu Hamburg, sagt er.
Braucht es schlicht mehr Geld?
Baden-württemberg sei eins von drei
Ländern, die am wenigsten in Grundschulen investierten, kritisiert Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands. Das zweite große Problem sei die Qualität, stimmt er mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) überein, der jüngst von einem Qualitätsproblem gesprochen hat. Er hatte das damit belegt, dass zwischen 1980 und 2019 die Zahl der Schüler um 16 Prozent gesunken und die der Lehrkräfte um 27 Prozent gestiegen sei. In dieser Zeit sei aber auch die Zahl der Schüler pro Klasse gesenkt und viel Neues eingeführt worden, erklärt Schoppers Sprecher und nennt beispielhaft Ganztagsschulen, insgesamt mehr Unterricht und neue Fächer wie Informatik.
Qualität hänge aber auch mit Quantität zusammen, also mit dem massiven Lehrermangel, so Bohn. „Es gibt Schulen, die den Pflichtunterricht nicht abdecken können.“Eine Reihe sogenannter Nichterfüller, die
formal keine ausgebildeten Lehrkräfte sind, müssen voll unterrichten. Zudem sei der viele fachfremde Unterricht ein Problem. „Unsere Lehrkräfte studieren zwei Fächer. Ein Teil der Lehrkräfte, die beispielsweise Deutsch unterrichten, haben das nie studiert.“Hier brauche es gezielte Nachqualifizierung, fordert Bohn.
Schoppers Sprecher verweist auf die nahezu Verdoppelung der Grundschulstudienplätze seit 2015. Die Lehrkräfte kommen allmählich an den Schulen an, sagt er. Zudem gebe es Pläne, Direkteinsteiger ohne pädagogischen Hintergrund anzuheuern, wie dies an beruflichen Schulen bereits passiert. Diese sollen parallel zur Arbeit qualifiziert werden.
Qualität gegen Quantität auszuspielen, sei Unfug, sagt auch Wissenschaftler Trautwein. „Manche Probleme kann man mit den Experten lösen, die wir schon haben, bei anderen Dingen müssen wir kurz-, mittel- und langfristig mehr Geld investieren, das ist überhaupt keine Frage.“Den aktuellen Lehrkräftemangel bezeichnet er als „Hypothek der Vergangenheit“und als Schande. „Es wird uns auf Jahre hin massiv erschweren, den Kindern und Jugendlichen das zu bieten, worauf sie ein Recht haben: die bestmögliche Unterstützung für ihr Lernen.“Wer in der vierten Klasse nicht richtig lesen, schreiben und rechnen könne, werde wohl in der weiterführenden Schule weiter abgehängt und lande langfristig in prekären Arbeitsverhältnissen. „Das gefährdet wiederum unsere offene, demokratische Gesellschaft: Wer beobachten möchte, wie es zu einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft kommt, kann das – quasi in Zeitlupe – anhand der Schulkarrieren der Kinder in Badenwürttemberg beobachten.“
Was schlägt Trautwein vor?
Manche richtigen Ansätze gebe es schon, sagt er – etwa das Förderprogramm „Starke Basis“, das Kultusministerin Schopper mit dem Fokus auf Mathe und Deutsch aufgelegt hat. Dass Lehrer an Grundschulen mit anderen Experten, etwa für Lernstörungen, im Team unterrichten sollen, sei ebenso richtig wie die „längst überfällige sozialindexbasierte Ressourcenzuweisung“, durch die Schulen mit besonderen Herausforderungen mehr Geld als andere bekommen sollen. Noch fehle es aber an langfristigen und überprüfbaren Zielen – und daran, auch die Kitas in den Blick zu nehmen. „Hier muss der spielerische, aber systematische Erwerb der deutschen Sprache bei allen Kindern gelingen. Leider sind wir davon weit entfernt“, denn auch da gebe es ein Qualitätsproblem.
Schlagen die Konzepte an?
Für ein Urteil ist es zu früh. Ein Sozialindex sei in Arbeit, so Schoppers Sprecher. Die Ressourcensteuerung wird aber schon getestet, auch im Biberacher Schulbezirk. Dort seien zehn Schulen ausgewählt worden, die Bedarf angemeldet hätten, berichtet die Personalratsvorsitzende Heidrun Drews. Ob die Schulen mit dem Geld wie die Gaisental-schule in Biberach Musikschullehrer zur Unterstützung engagierten, oder etwa Ergotherapeuten, sei diesen überlassen. „Wir sind froh, dass das Thema überhaupt angegangen wurde“, sagt Drews. Die Zusatzkräfte könnten helfen, die Kinder sozial-emotional zu unterstützen. Ob sie helfen, wie von Schopper erhofft, Lernrückstände zu beheben, sieht sie skeptisch. „Toller wäre, wir könnten alle Regelstellen mit Lehren besetzen, die voll ausgebildet sind.“