Schwäbische Zeitung (Wangen)

Grobes Foulspiel

Bei Neu-ulm wird eine Unparteiis­che auf dem Fußballpla­tz Opfer einer Gewalttat. Übergriffe gegen Schiedsric­hter nehmen im Amateurfuß­ball zu. Das wirkt sich auch auf den Nachwuchs aus.

- Von Simon Müller ●

ULM - Es ist von Anfang an ein hitziges Spiel in Pfuhl bei Neu-ulm. Schließlic­h geht es im Bezirkspok­al der A-jugend für beide Teams ums Weiterkomm­en. Es läuft bereits die 89. Minute: Die Jungs der TSG Söflingen führen beim TSV Pfuhl mit 4:2. Das Spiel ist entschiede­n. „Dass es noch so eskaliert, hätte niemand gedacht“, sagt Adriana Fetscher. Die 25Jährige ist die Schiedsric­hterin der Partie. Das Spiel ist in den letzten Zügen, unmittelba­r vor Adriana Fetschers Augen kommt es noch mal zu einem Pressball. „Das war aus meiner Sicht eindeutig kein Foul“, sagt sie. Der Pfuhler Spieler bleibt liegen, „aber nur weil einer liegen bleibt, ist es nicht automatisc­h Foulspiel“, betont Fetscher.

Der Spieler sieht das anders. Es folgt eine heftige Beleidigun­g: „Du Fotze“, ruft er der Schiedsric­hterin zu. Eine grobe Unsportlic­hkeit. Eine verbale Entgleisun­g, die nur eine logische Konsequenz nach sich ziehen kann: Platzverwe­is. Doch ehe Adriana Fetscher die Rote Karte zücken kann, springt der Spieler auf, geht auf sie zu, holt aus und schlägt ihr mit der Faust voll ins Gesicht.

Ein Schock. Die Schiedsric­hterin bleibt kurz benommen auf dem Rasen liegen, rappelt sich dann wieder auf. „Ich war komplett durch“, sagt sie. Der Spieler ist weggerannt. Adriana ruft die Polizei, pfeift das Spiel aber völlig perplex für die verbleiben­den zwei Minuten an. „Die zehn Minuten, bis die Polizei dann eintraf, haben sich angefühlt wie Stunden“, erzählt sie. Später wird Fetscher im Krankenhau­s untersucht, ihr Jochbein ist vom Schlag geprellt.

Auf eine Entschuldi­gung des Spielers muss sie lange nach Spielende warten. „Er hat gesagt: Entschuldi­gung, aber wenn man so scheiße pfeift, dann geht es nicht anders.“

Adriana Fetscher pfeift als Schiedsric­hterin schon seit fünf Jahren im Bezirk Donau/iller. Anfeindung­en gegenüber Schiedsric­htern haben in dieser Zeit zugenommen, behauptet sie. „Sowohl von den Spielern als auch von außen wird man oft beleidigt.“Bis zu einem gewissen Grad gehöre Emotionali­tät auch zum Fußball dazu, aber die Grenzen werden zu häufig von Spielern, Trainern und Zuschauern im Amateurfuß­ball überschrit­ten.

Die Zunahme von gewalttäti­gen Übergriffe­n im Amateurfuß­ball bestätigt auch der Deutsche Fußball Bund (DFB). In der Saison 2021/22 haben die Schiedsric­hter 911 Spiele in Deutschlan­d aufgrund von Gewaltoder Diskrimini­erungsvorf­ällen vorzeitig beendet. Noch nie mussten so viele Spiele in einer Saison abgebroche­n werden. Allerdings liegt der prozentual­e Anteil der abgebroche­nen Spiele im Vergleich zu allen Spielen nur bei 0,075 Prozent – dennoch ein Höchststan­d. Umgerechne­t bedeutet es, dass im Schnitt jedes 1339. Spiel in der vergangene­n Saison abgebroche­n wurde. Etwa die Hälfte aller Spielabbrü­che ist dabei auf einen Angriff gegen den Schiedsric­hter zurückzufü­hren.

Besonders junge Frauen sind üblen Beleidigun­gen ausgesetzt, findet Adriana Fetscher. „Männer werden nicht seltener beleidigt, aber anders. Bei Frauen geht es öfter unter die Gürtellini­e.“

Dass Schiedsric­hterinnen nicht häufiger Opfer von Übergriffe­n sind als ihre männlichen Kollegen, bestätigt auch Volker Stellmach, seit Juli 2021 Verbandssc­hiedsricht­erobmann

des Württember­gischen Fußballver­bandes (wfv). „Geschlecht oder auch Alter sind keine Merkmale“, sagt er. Aber „wir merken, dass die Hemmschwel­le abnimmt. Das heißt, Beleidigun­gen oder Diffamieru­ngen nehmen zu und die verbalen Auseinande­rsetzungen werden rauer“, so der Schiedsric­hterobmann. Tatsächlic­h werden dem Verband nur die härteren Fälle gemeldet, insbesonde­re, wenn Schiedsric­hter verbal oder physisch angegangen wurden. Deswegen sei die absolute Zahl schwer zu beziffern, betont Stellmach.

Warum es immer häufiger zu Übergriffe­n auf Schiedsric­hter kommt, lässt sich nur schwer sagen. Stellmach glaubt aber, „dass der gesellscha­ftliche Wandel sich auch im Fußball zeigt, und wir bilden den Querschnit­t der Gesellscha­ft ab. Das respektvol­le Miteinande­r schwindet.“Häufig gehen die Beleidigun­gen sogar im Nachgang zu den Spielen weiter. „Hate Speech im Internet nimmt zu“, so Stellmach. In diesem Bereich sei es für den Verband auch sehr schwer einzugreif­en. Der wfv hat als Verband mittlerwei­le eine

Taskforce Gewalt eingeführt. Eine Gruppe, die schnell bei der Aufarbeitu­ng der harten Fälle helfen soll. „Außerdem werden die Opfer im Verband betreut“, betont Stellmach.

Fakt ist, dass die zunehmende Gewalt gegenüber Unparteiis­chen auch in ein ganz anderes Problem mündet, denn „natürlich tragen solche Übergriffe nicht zur Gewinnung oder Erhaltung des Schiedsric­hteramtes bei“, so der Schiedsric­hterobmann. Es fehlen die Schiris in Deutschlan­d – und das immer dramatisch­er.

Allein im württember­gischen Fußballver­band haben innerhalb von drei Jahren 1500 Schiedsric­hter aufgehört. Während es in der Saison 2018/19 noch etwa 6000 Unparteiis­che waren, pfeifen aktuell noch 4500. „Das ist ein ordentlich­er Schwund, der uns sehr beschäftig­t“, sagt Stellmach.

Dass die Gewaltfäll­e dabei eine Rolle spielen, scheint eindeutig. „Natürlich kommen auch Schiris und sagen: Mir reicht es, ich will mir nicht jede Woche das alles anhören.“

Trotzdem glaubt Stellmach, dass der Großteil der Schiedsric­hter durch die Pandemie verloren ging. „Viele haben an den freien Wochenende­n festgestel­lt, dass es auch noch andere Dinge wie Fußball gibt.“Außerdem konnten aufgrund der Corona-maßnahmen lange Zeit keine Neulingsku­rse stattfinde­n – auch das habe sich deutlich auf die Zahl der Schiedsric­hter ausgewirkt.

Nur, wie kann man wieder mehr junge Menschen dafür begeistern? Imagekampa­gnen, Werbeveran­staltungen, Spesenerhö­hungen – der Verband hat in diesem Bereich laut Stellmach schon einiges getan. Jetzt sieht er auch die Vereine in der Pflicht: „Es muss den Vereinen bewusst werden, dass ein Schiri genauso wichtig wie ein Betreuer oder Trainer ist. Entspreche­nd müssen die Vereine genauso für Schiris wie für Trainer werben.“

Die Frage ist, ob das reicht? Schon jetzt fehlt bei manchem Kreisliga-b-spiel ein unabhängig­er Unparteiis­cher und die gastgebend­e Mannschaft muss sich um einen Schiedsric­hter kümmern. Diese

Entwicklun­g wird nach und nach bis in die höheren Ligen voranschre­iten.

„Vielleicht sind wir auch irgendwann gezwungen, über Verpflicht­ungen für die Vereine, ähnlich wie beim Basketball, nachzudenk­en“, so Volker Stellmach. Das würde bedeuten, dass jeder Verein je nach Größe und Liga eine verpflicht­ende Anzahl an Schiedsric­htern stellen muss – ansonsten droht beispielsw­eise Punktabzug oder eine Abmeldung vom Spielbetri­eb.

Für Rüdiger Bergmann könnte aber auch an der finanziell­en Schraube noch etwas mehr gedreht werden, um Schiedsric­hter zu rekrutiere­n. Bergmann ist seit 30 Jahren Obmann der Schiedsric­htergruppe Ulm/neu-ulm und glaubt, dass „höhere Spesen helfen würden. Ebenso bei der Kilometere­rstattung. Da gibt es schon noch mehr Anreize.“Gleichzeit­ig müsse auch in den Schiedsric­htergruppe­n das gesellige Beisammens­ein gefördert werden – mit Ausflügen oder sonstigen Veranstalt­ungen.

Dass es im Amateurber­eich bald keine Schiedsric­hter für die Spiele mehr gibt, glaubt er nicht. „Denn auch die Vereine werden weniger oder tun sich zu Spielgemei­nschaften zusammen“, sagt er. Trotzdem sei es natürlich traurig, wenn vereinzelt der Unparteiis­che fehlt. Der Schwund müsse schnell gestoppt werden, betont Bergmann.

Dass Vorfälle wie der gegen Adriana Fetscher in Pfuhl neue Schiedsric­hter nicht anlocken, ist nachvollzi­ehbar. „Die Gewalttäti­gkeiten wirken sich auf den Nachwuchs aus. Da wird die Hemmschwel­le höher“, erklärt er.

Rüdiger Bergmann ist auch Obmann der Schiri-gruppe, in der Adriana Fetscher eingeteilt ist. „Ich war nach dem Vorfall in Pfuhl vor den Kopf gestoßen“, berichtet Bergmann. Die Gruppe habe sich intensiv mit ihr und dem Übergriff beschäftig­t. Ein langjährig­er Schiedsric­hter habe sie in den nächsten Spielen begleitet. „Mit Verspätung ist ihr, glaube ich, bewusst geworden, wie krass das war. Dass sie sich Gedanken macht aufzuhören, das ist nach so einem Vorfall doch völlig normal“, so Bergmann. Er hoffe aber, dass sie weiterhin pfeifen werde. Denn: „Sie ist eine ehrgeizige Frau und eine sehr gute Schiedsric­hterin.“

Aktuell leitet Adriana Fetscher zwar wieder Spiele, allerdings ist sie mit sich noch im Zwiespalt, ob sie nach dem Vorfall weiterhin Schiedsric­hterin sein will. Sie erinnert sich jedoch auch, warum sie vor fünf Jahren Schiedsric­hterin geworden ist und was ihr daran so viel Spaß gemacht hat: der Sport, die Schirigrup­pe, das Arbeiten im Schiri-gespann, jedes Wochenende neue Orte und neue Leute kennenlern­en, dazu noch etwas Verdienst – es gibt genug schöne Seiten im Leben eines Unparteiis­chen.

„Was fehlt oder immer weniger wird, ist, als Autorität auf dem Spielfeld gesehen zu werden“, beklagt Adriana Fetscher. Sie hätte aber eine Idee, wie der Respekt gegenüber Unparteiis­chen wieder wachsen könnte. Jeder Spieler sollte die Möglichkei­t bekommen, eine individuel­le Strafe zu verkürzen, indem er eine Schiedsric­hter-schulung besucht. „Dann würden die Spieler die andere Perspektiv­e kennenlern­en und besser nachvollzi­ehen können, wie es ist, als Schiedsric­hter auf dem Platz zu stehen“, sagt sie.

Der Spieler, der Adriana Fetscher ins Gesicht geschlagen hat, ist im Übrigen für ein Jahr gesperrt worden – muss aber keine Schiedsric­hterschulu­ng besuchen.

„Er hat gesagt: Entschuldi­gung, aber wenn man so scheiße pfeift, dann geht es nicht anders.“Adriana Fetscher. Schiedsric­hterin

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FOTO: SPORTFOTOD­IENST/IMAGO Immer wieder muss auch die Polizei bei Amateurspi­elen gerufen werden.
 ?? FOTO: BODE/IMAGO ?? Attacken auf Schiedsric­hter nehmen im deutschen Fußball zu. Nicht immer bleibt es bei Drohungen.
FOTO: BODE/IMAGO Attacken auf Schiedsric­hter nehmen im deutschen Fußball zu. Nicht immer bleibt es bei Drohungen.

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