Grobes Foulspiel
Bei Neu-ulm wird eine Unparteiische auf dem Fußballplatz Opfer einer Gewalttat. Übergriffe gegen Schiedsrichter nehmen im Amateurfußball zu. Das wirkt sich auch auf den Nachwuchs aus.
ULM - Es ist von Anfang an ein hitziges Spiel in Pfuhl bei Neu-ulm. Schließlich geht es im Bezirkspokal der A-jugend für beide Teams ums Weiterkommen. Es läuft bereits die 89. Minute: Die Jungs der TSG Söflingen führen beim TSV Pfuhl mit 4:2. Das Spiel ist entschieden. „Dass es noch so eskaliert, hätte niemand gedacht“, sagt Adriana Fetscher. Die 25Jährige ist die Schiedsrichterin der Partie. Das Spiel ist in den letzten Zügen, unmittelbar vor Adriana Fetschers Augen kommt es noch mal zu einem Pressball. „Das war aus meiner Sicht eindeutig kein Foul“, sagt sie. Der Pfuhler Spieler bleibt liegen, „aber nur weil einer liegen bleibt, ist es nicht automatisch Foulspiel“, betont Fetscher.
Der Spieler sieht das anders. Es folgt eine heftige Beleidigung: „Du Fotze“, ruft er der Schiedsrichterin zu. Eine grobe Unsportlichkeit. Eine verbale Entgleisung, die nur eine logische Konsequenz nach sich ziehen kann: Platzverweis. Doch ehe Adriana Fetscher die Rote Karte zücken kann, springt der Spieler auf, geht auf sie zu, holt aus und schlägt ihr mit der Faust voll ins Gesicht.
Ein Schock. Die Schiedsrichterin bleibt kurz benommen auf dem Rasen liegen, rappelt sich dann wieder auf. „Ich war komplett durch“, sagt sie. Der Spieler ist weggerannt. Adriana ruft die Polizei, pfeift das Spiel aber völlig perplex für die verbleibenden zwei Minuten an. „Die zehn Minuten, bis die Polizei dann eintraf, haben sich angefühlt wie Stunden“, erzählt sie. Später wird Fetscher im Krankenhaus untersucht, ihr Jochbein ist vom Schlag geprellt.
Auf eine Entschuldigung des Spielers muss sie lange nach Spielende warten. „Er hat gesagt: Entschuldigung, aber wenn man so scheiße pfeift, dann geht es nicht anders.“
Adriana Fetscher pfeift als Schiedsrichterin schon seit fünf Jahren im Bezirk Donau/iller. Anfeindungen gegenüber Schiedsrichtern haben in dieser Zeit zugenommen, behauptet sie. „Sowohl von den Spielern als auch von außen wird man oft beleidigt.“Bis zu einem gewissen Grad gehöre Emotionalität auch zum Fußball dazu, aber die Grenzen werden zu häufig von Spielern, Trainern und Zuschauern im Amateurfußball überschritten.
Die Zunahme von gewalttätigen Übergriffen im Amateurfußball bestätigt auch der Deutsche Fußball Bund (DFB). In der Saison 2021/22 haben die Schiedsrichter 911 Spiele in Deutschland aufgrund von Gewaltoder Diskriminierungsvorfällen vorzeitig beendet. Noch nie mussten so viele Spiele in einer Saison abgebrochen werden. Allerdings liegt der prozentuale Anteil der abgebrochenen Spiele im Vergleich zu allen Spielen nur bei 0,075 Prozent – dennoch ein Höchststand. Umgerechnet bedeutet es, dass im Schnitt jedes 1339. Spiel in der vergangenen Saison abgebrochen wurde. Etwa die Hälfte aller Spielabbrüche ist dabei auf einen Angriff gegen den Schiedsrichter zurückzuführen.
Besonders junge Frauen sind üblen Beleidigungen ausgesetzt, findet Adriana Fetscher. „Männer werden nicht seltener beleidigt, aber anders. Bei Frauen geht es öfter unter die Gürtellinie.“
Dass Schiedsrichterinnen nicht häufiger Opfer von Übergriffen sind als ihre männlichen Kollegen, bestätigt auch Volker Stellmach, seit Juli 2021 Verbandsschiedsrichterobmann
des Württembergischen Fußballverbandes (wfv). „Geschlecht oder auch Alter sind keine Merkmale“, sagt er. Aber „wir merken, dass die Hemmschwelle abnimmt. Das heißt, Beleidigungen oder Diffamierungen nehmen zu und die verbalen Auseinandersetzungen werden rauer“, so der Schiedsrichterobmann. Tatsächlich werden dem Verband nur die härteren Fälle gemeldet, insbesondere, wenn Schiedsrichter verbal oder physisch angegangen wurden. Deswegen sei die absolute Zahl schwer zu beziffern, betont Stellmach.
Warum es immer häufiger zu Übergriffen auf Schiedsrichter kommt, lässt sich nur schwer sagen. Stellmach glaubt aber, „dass der gesellschaftliche Wandel sich auch im Fußball zeigt, und wir bilden den Querschnitt der Gesellschaft ab. Das respektvolle Miteinander schwindet.“Häufig gehen die Beleidigungen sogar im Nachgang zu den Spielen weiter. „Hate Speech im Internet nimmt zu“, so Stellmach. In diesem Bereich sei es für den Verband auch sehr schwer einzugreifen. Der wfv hat als Verband mittlerweile eine
Taskforce Gewalt eingeführt. Eine Gruppe, die schnell bei der Aufarbeitung der harten Fälle helfen soll. „Außerdem werden die Opfer im Verband betreut“, betont Stellmach.
Fakt ist, dass die zunehmende Gewalt gegenüber Unparteiischen auch in ein ganz anderes Problem mündet, denn „natürlich tragen solche Übergriffe nicht zur Gewinnung oder Erhaltung des Schiedsrichteramtes bei“, so der Schiedsrichterobmann. Es fehlen die Schiris in Deutschland – und das immer dramatischer.
Allein im württembergischen Fußballverband haben innerhalb von drei Jahren 1500 Schiedsrichter aufgehört. Während es in der Saison 2018/19 noch etwa 6000 Unparteiische waren, pfeifen aktuell noch 4500. „Das ist ein ordentlicher Schwund, der uns sehr beschäftigt“, sagt Stellmach.
Dass die Gewaltfälle dabei eine Rolle spielen, scheint eindeutig. „Natürlich kommen auch Schiris und sagen: Mir reicht es, ich will mir nicht jede Woche das alles anhören.“
Trotzdem glaubt Stellmach, dass der Großteil der Schiedsrichter durch die Pandemie verloren ging. „Viele haben an den freien Wochenenden festgestellt, dass es auch noch andere Dinge wie Fußball gibt.“Außerdem konnten aufgrund der Corona-maßnahmen lange Zeit keine Neulingskurse stattfinden – auch das habe sich deutlich auf die Zahl der Schiedsrichter ausgewirkt.
Nur, wie kann man wieder mehr junge Menschen dafür begeistern? Imagekampagnen, Werbeveranstaltungen, Spesenerhöhungen – der Verband hat in diesem Bereich laut Stellmach schon einiges getan. Jetzt sieht er auch die Vereine in der Pflicht: „Es muss den Vereinen bewusst werden, dass ein Schiri genauso wichtig wie ein Betreuer oder Trainer ist. Entsprechend müssen die Vereine genauso für Schiris wie für Trainer werben.“
Die Frage ist, ob das reicht? Schon jetzt fehlt bei manchem Kreisliga-b-spiel ein unabhängiger Unparteiischer und die gastgebende Mannschaft muss sich um einen Schiedsrichter kümmern. Diese
Entwicklung wird nach und nach bis in die höheren Ligen voranschreiten.
„Vielleicht sind wir auch irgendwann gezwungen, über Verpflichtungen für die Vereine, ähnlich wie beim Basketball, nachzudenken“, so Volker Stellmach. Das würde bedeuten, dass jeder Verein je nach Größe und Liga eine verpflichtende Anzahl an Schiedsrichtern stellen muss – ansonsten droht beispielsweise Punktabzug oder eine Abmeldung vom Spielbetrieb.
Für Rüdiger Bergmann könnte aber auch an der finanziellen Schraube noch etwas mehr gedreht werden, um Schiedsrichter zu rekrutieren. Bergmann ist seit 30 Jahren Obmann der Schiedsrichtergruppe Ulm/neu-ulm und glaubt, dass „höhere Spesen helfen würden. Ebenso bei der Kilometererstattung. Da gibt es schon noch mehr Anreize.“Gleichzeitig müsse auch in den Schiedsrichtergruppen das gesellige Beisammensein gefördert werden – mit Ausflügen oder sonstigen Veranstaltungen.
Dass es im Amateurbereich bald keine Schiedsrichter für die Spiele mehr gibt, glaubt er nicht. „Denn auch die Vereine werden weniger oder tun sich zu Spielgemeinschaften zusammen“, sagt er. Trotzdem sei es natürlich traurig, wenn vereinzelt der Unparteiische fehlt. Der Schwund müsse schnell gestoppt werden, betont Bergmann.
Dass Vorfälle wie der gegen Adriana Fetscher in Pfuhl neue Schiedsrichter nicht anlocken, ist nachvollziehbar. „Die Gewalttätigkeiten wirken sich auf den Nachwuchs aus. Da wird die Hemmschwelle höher“, erklärt er.
Rüdiger Bergmann ist auch Obmann der Schiri-gruppe, in der Adriana Fetscher eingeteilt ist. „Ich war nach dem Vorfall in Pfuhl vor den Kopf gestoßen“, berichtet Bergmann. Die Gruppe habe sich intensiv mit ihr und dem Übergriff beschäftigt. Ein langjähriger Schiedsrichter habe sie in den nächsten Spielen begleitet. „Mit Verspätung ist ihr, glaube ich, bewusst geworden, wie krass das war. Dass sie sich Gedanken macht aufzuhören, das ist nach so einem Vorfall doch völlig normal“, so Bergmann. Er hoffe aber, dass sie weiterhin pfeifen werde. Denn: „Sie ist eine ehrgeizige Frau und eine sehr gute Schiedsrichterin.“
Aktuell leitet Adriana Fetscher zwar wieder Spiele, allerdings ist sie mit sich noch im Zwiespalt, ob sie nach dem Vorfall weiterhin Schiedsrichterin sein will. Sie erinnert sich jedoch auch, warum sie vor fünf Jahren Schiedsrichterin geworden ist und was ihr daran so viel Spaß gemacht hat: der Sport, die Schirigruppe, das Arbeiten im Schiri-gespann, jedes Wochenende neue Orte und neue Leute kennenlernen, dazu noch etwas Verdienst – es gibt genug schöne Seiten im Leben eines Unparteiischen.
„Was fehlt oder immer weniger wird, ist, als Autorität auf dem Spielfeld gesehen zu werden“, beklagt Adriana Fetscher. Sie hätte aber eine Idee, wie der Respekt gegenüber Unparteiischen wieder wachsen könnte. Jeder Spieler sollte die Möglichkeit bekommen, eine individuelle Strafe zu verkürzen, indem er eine Schiedsrichter-schulung besucht. „Dann würden die Spieler die andere Perspektive kennenlernen und besser nachvollziehen können, wie es ist, als Schiedsrichter auf dem Platz zu stehen“, sagt sie.
Der Spieler, der Adriana Fetscher ins Gesicht geschlagen hat, ist im Übrigen für ein Jahr gesperrt worden – muss aber keine Schiedsrichterschulung besuchen.
„Er hat gesagt: Entschuldigung, aber wenn man so scheiße pfeift, dann geht es nicht anders.“Adriana Fetscher. Schiedsrichterin