„Der Krieg spielt kaum noch eine Rolle“
Der Psychologe und Chef des Rheingold-instituts Stephan Grünewald spricht über die Ängste der Deutschen
BERLIN/KÖLN - Die Deutschen sind von der Energiekrise viel unmittelbarer als vom Krieg in der Ukraine betroffen, sagt der Psychologe Stephan Grünewald (62): „ Das Land erlebt aktuell eine gespenstische Unbestimmtheit.“Zusammen mit seinen Kollegen vom Kölner Rheingold-institut legt er Deutschland im übertragenen Sonne des Wortes regelmäßig auf die Couch. In Tiefeninterviews mit vielen Hunderten von Deutschen erforscht Grünewald aktuell die Seelenlage der Republik – und die ist derzeit durchwachsen.
Herr Grünewald, wie geht es uns Deutschen eigentlich gerade?
Die Massierung der Krisen hinterlässt Spuren: Erschöpfung breitet sich aus, die Reizbarkeit nimmt zu. Wir haben im Februar vor dem Kriegseintritt eine Studie gemacht und festgestellt, wie resigniert die Menschen waren, weil sie in den zwei Jahren Corona immer wieder erlebt haben, wie ihre Pläne zunichtegemacht wurden. Wir haben den Zustand damals Melancovid genannt.
Dann kam der Ukraine-krieg.
Der hat die Menschen in eine Art Schockstarre versetzt wegen des ungeheuren Eskalationspotenzials hin zum Flächenbrand, zum Weltkrieg. Die Menschen waren also eine zeitlang wie gelähmt und haben gleichzeitig sehr stark auf eine erlösende Botschaft in den Nachrichten gehofft. Als die nicht eintrat, wurde die Normalität des Alltags beschworen, wurden private Ablenkungsmanöver gestartet. In einer Studie im Mai haben wir bereits festgestellt: Der Krieg wird weitgehend ausgeblendet und dem folgte die Selbstvergessenheit des Sommers, eine eher unbeschwerte Zeit.
Und jetzt?
Wir erleben aktuell eine gespenstische Unbestimmtheit. Was genau sich da zusammenbraut, ist noch relativ unklar: Sitzen wir im Kalten? Gibt es vielleicht sogar einen Blackout? Die zweite Ungewissheit betrifft die Interaktion der Krisen: Schaukeln sich Klima, Krieg und Corona gegenseitig hoch? Und drittens ist offen, wie gegengesteuert werden soll: Wann kommt die Entlastung? Wie viel Entlastung benötigen wir überhaupt?
Ungewissheit ist für Menschen besonders schwer erträglich. Sie haben einmal gesagt, das sei wie in einem Horrorfilm: Das Warten auf den schrecklichen Vampir ist das Gruseligste. Hat sich das Monster denn jetzt schon gezeigt?
Leider noch nicht ganz. Klar, einige Haushalte haben jetzt schon ihre Rechnung bekommen. Andere warten noch. Gleichzeitig liest man, die Gasspeicher seien nun voll. Also schon wieder Entwarnung? Das alles ist eine sehr schwankende Basis.
Was genau ist denn in unserer Realität der Vampir? Die Gasrechnung oder der Krieg oder die Arbeitslosigkeit?
Der Krieg selbst spielt kaum noch eine Rolle. Die Menschen sind von der
Energiekrise viel unmittelbarer betroffen. Deswegen mehren sich jetzt auch die Stimmen, die sagen, das ist ja alles verschuldet durch die Politik: Weil man zu lange auf russisches Gas gesetzt hat oder weil man das alte Band mit Russland zerschneidet. Je kälter es draußen wird, desto mehr erhitzen sich die Gemüter.
Wie lange hält eine Gesellschaft diese Unbestimmtheit aus?
Es ist jedenfalls ein Nährboden für Ängste und Projektionen. Es kann allerdings auch anders ausgehen: Dass die Vorhänge zwar weiter düster wehen, aber gar kein Vampir kommt – und das Ganze irgendwann diffundiert. Es kann aber auch sein, dass wir einen harten Wintereinbruch kriegen, das Gas geht aus und die Bude ist kalt. Das halten wir nicht lange aus.
Wir haben durch Corona eine gewisse Krisenerfahrung. Sind wir dadurch eigentlich verwundbarer geworden, weil die Nerven eh schon blank liegen, oder sind wir im Gegenteil krisengestählt – also resilienter?
Was auf der seelischen Habenseite steht: Die Menschen haben in der Corona-zeit gemerkt, dass sie sich umstellen können: digital arbeiten, Homeoffice, ihre Freundeskreise neu sortieren. Den Rückzug ins Schneckenhaus als Strategie.
Aber jetzt womöglich ein Schneckenhaus ohne Heizung.
Genau – und das ist ja eine sehr archaische Sorge. Wir können vielleicht mal einen Tag lang nichts trinken oder mal eine Woche fasten, aber drei Stunden Kälte vielleicht noch gepaart mit Dunkelheit, das ist kaum aushaltbar.
Haben die Probanden den Eindruck, dass die Politik diese besondere Situation ausreichend kommuniziert?
Kanzler Olaf Scholz ist nicht der große Kommunikator, sondern derjenige, der sich als väterlicher Ruhepol darstellt. Für die Kommunikation ist eher Wirtschaftsminister Robert Habeck zuständig, der Ambivalenzen formuliert und auf Augenhöhe spricht. Er wurde deswegen ja schon fast zum Messias auserkoren, ehe man gemerkt hat, dass auch er Fehler macht. Außenministerin Annalena Baerbock wiederum steht für eine taffe Klarheit, die manchen fast schon wieder Angst macht.
Scholz versucht der Unbestimmtheit doch entgegenzuwirken mit seiner Ansage: Ich kümmere mich!
Es ist aber ein nicht durchdekliniertes Versprechen. Der Doppelwumms ist ja nicht konkret hinterlegt.
Na ja, inzwischen ist die stolze Summe von rund 100 Milliarden Euro mobilisiert und weitere 200 Milliarden Euro sind angekündigt.
Die Krise hat ja zwei Seiten: die pekuniäre und die seelische. In den Tiefeninterviews berichten die Menschen zum Beispiel, dass sie Angst davor haben, dass die Weihnachtsgemütlichkeit wegfällt. Und noch was: Wenn ich jemandem 100 Euro schenke, und er muss dann aber 100 Euro wieder abgeben, ist er – seelenlogisch betrachtet – gekränkt.
Wenn der Verlust also immer stärker wiegt als der Ausgleich, heißt das für die Politik ja, sie muss tatsächlich noch mehr drauflegen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben 200
Euro im Lotto gewonnen, verlieren aber beim Einkaufen Ihr Portemonnaie mit 100 Euro drin. Auch wenn Sie unterm Strich 100 Euro Gewinn gemacht haben, ihr Tag wird nicht mehr glücklich sein.
Sie haben ein weiteres Phänomen beschrieben: den Trotzkonsum. Was ist das – und stellen Sie das jetzt auch fest?
In der Finanzkrise vor einigen Jahren hatten die Menschen das Gefühl, dass all ihr Gespartes in ein schwarzes Loch rutschen kann und dann weg ist. Bevor das passiert, so die Überlegung, hauen wir das jetzt raus, verwandeln das abstrakte Geld in konkrete Dinge: Möbel, Luxusgüter, Dinge des täglichen Gebrauchs. Auch jetzt gibt es Menschen, die so gut situiert sind, dass sie trotz hoher Energiepreise ihren Lebensstandard nicht ändern müssen. Trotzkonsum ist der Versuch, seelische Unsicherheit mit Konsum zu stabilisieren. Ich kaufe, also bin ich.
Und dann gibt es das andere Ende des Spektrums …
Es gibt sogar die, die all die Spartipps als zynisch erleben, weil sie das Gefühl haben, sie nutzen seit Jahren alle Sparpotenziale. Discounter, Verzicht auf Kino und im Urlaub waren sie schon ewig nicht mehr.
Die Deutschen begreifen sich ja größtenteils als nivellierte Mittelschicht. Was macht die?
Es gibt die, die das Gefühl haben, noch halbwegs durch die Krise zu kommen, aber große Ängste haben, sich Hobbys oder Reisen in Zukunft nicht mehr leisten zu können. Die versuchen nun, die Krise irgendwie abzuwehren. Und dann gibt es die bürgerliche Mitte: Leute, die zwar finanziell belastet sind, aber ihr Leben dennoch nicht komplett ändern müssen. Die sparen eher aus Solidarität als aus Notwendigkeit.
Wenn man nichts mehr tun kann, nicht mal mehr die Heizung runterstellen, weil die eh schon auf 16 Grad steht: Ist ein solches Ohnmachtsgefühl auch gesellschaftlich gefährlich?
Es kann ein Grund sein, politisch trotzig zu werden. Menschen, die große Abstiegsängste haben oder sich seit Jahren zu wenig wertgeschätzt fühlen, sind anfällig zu sagen: Wir gehen jetzt auf die Straße oder in die innere Emigration oder wählen AFD.
Es wird immer gesagt, die Deutschen hätten traditionell Angst vor Inflation, weil wir zwischen den zwei Kriegen, vor 100 Jahren, die Hyperinflation erlebt haben. Gibt es tatsächlich so ein kollektives Gedächtnis?
Da muss ich ein bisschen ausholen: Die Deutschen haben kein so stabiles Selbstbild wie Amerikaner, Franzosen oder Engländer. Das ist aufgrund der geschichtlichen Brüche auch nicht möglich. Wir Deutsche haben eher eine Art notorische Unruhe. Das führt dazu, dass wir einerseits alles reglementieren wollen, Dinnormen, Bürokratie und den TÜV feiern. Diese Unruhe kann aber auch schöpferisch sein: Sie macht uns zu Suchenden, zu Erfindern, zu Dichtern und Denkern. Wenn unsere Unruhe aber nicht produktiv absorbiert wird, kann sie buchstäblich inflationär werden, dann wirft sie sich auf alles, was unsicher scheint.
Wenn also die Bahn nicht mal eine Pünktlichkeit von 60 Prozent erreicht, wird es in Deutschland gefährlich … ?
Absolut, eine pünktliche Bahn war lange Zeit eine Art Identitäts-ersatz, etwas, woran man sich festhalten kann.
Was steht uns im Winter und danach bevor?
Wir beobachten zum einen eine stärkere Jahreszeiten-rhythmisierung. Im Winter ziehen sich die Menschen noch stärker zurück und begeben sich in so eine Art Netflix-winterschlaf. Im Frühjahr werden wir dann eine Auferstehung erleben. Diese Amplituden vergrößern sich.
Kann es sein, dass die Krise unser neues Normal ist? Dass wir die Vorstellung begraben müssen, noch diesen einen Krisenwinter und dann ist alles wie früher?
Das ahnen die Leute schon seit Langem. Sie haben daher versucht, sich in einer permanenten Gegenwart zu verbunkern. Aber jetzt haben wir tatsächlich eine Zeitenwende. Das zeigt sich auch im Alltag: Wer fliegen wird, steht in einer unendlichen Schlange, die Läden reduzieren ihre Öffnungszeiten, man kriegt keine Handwerker mehr. In einem meiner letzten Bücher habe ich versucht, das mit diesem Turm aus Holzklötzchen zu beschreiben: Man zieht immer ein Klötzchen raus und guckt, ob der Turm noch stabil ist. Jetzt haben die Menschen das Gefühl, das ganze Ding ist in Gefahr.