„Man wollte das kommende Unheil nicht sehen“
Volkswirt Thomas Mayer über die Fehler der Politik, die Inflation und die Notwendigkeit einer „Agenda 2030“
- Thomas Mayer, der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, geht in seinem neuesten Buch hart mit der Ära Merkel ins Gericht. Im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“verrät er seine Gründe und erklärt zudem, was der Standort Deutschland braucht und was er mit dem Euro tun würde.
Herr Mayer, Altkanzlerin Merkel hat kürzlich das „Großkreuz in besonderer Ausführung“erhalten, der höchste Verdienstorden der Bundesrepublik. Was sagen Sie dazu?
Ich würde sagen, das hat schon ein gewisses „Geschmäckle“. Der Orden wurde ihr von ihrem ehemaligen Außenminister, dem jetzigen Bundespräsidenten Frankwalter Steinmeier, verliehen. Daraus kann man schließen, dass er sich mit der Auszeichnung auch selbst gemeint hat. Beide waren ja – vor allem, was die Außenpolitik angeht – sehr synchron unterwegs. Entsprechend haben sie sämtliche Fehler in Bezug auf Russland und die Energiepolitik auch gemeinsam begangen.
Hat Angela Merkel auch etwas gut gemacht? Etwa das Krisenmanagement?
Angela Merkel verkörperte den Zeitgeist, der mit der Wiedervereinigung eingesetzt hat. Die Deutschen haben sich in dieser Zeit des vermeintlich allumfassenden Friedens zurückgelehnt, haben die Friedensdividende verkonsumiert – Stichwort: Verschleiß der Bundeswehr. Man hat auch in vielen anderen Bereichen eine Wohlfühlpolitik betrieben. Es wurde der Allversicherungsstaat geschaffen, der die Bürger gegen alle Lebensrisiken absichert.
Aber die Krisen?
Man kann schon sagen: Ja, sie war eine Krisenmanagerin. Aber es war nicht so, dass diese Krisen auch gelöst worden wären. Sondern sie wurden mehr oder weniger verdrängt, ohne dass der darunterliegende Schwelbrand gelöscht worden ist. Sie hat die Befindlichkeit der Deutschen bedient, jedoch ohne die Krisen wirklich zu lösen.
Zum Beispiel?
Die Eurokrise ist nicht gelöst. Die Spannungen im Euroraum bestehen immer noch. Auch in der Russland-politik wurden die Probleme nur unter den Teppich gekehrt – etwa mit dem Minsk I-abkommen und dem Minsk Ii-abkommen. In der Energiepolitik hat Merkel den Weg zur Abschaltung der Atomkraftwerke geebnet. Das hat überhaupt nichts gelöst, sondern verursacht nur riesige Probleme. Merkel war keine echte Krisenmanagerin, sie war eine Krisenverdrängerin. Die Kanzlerin hat immer versucht, alle Wünsche zu bedienen. So wurde auch der Sozialstaat immer weiter ausgeweitet. Die Frühverrentung und die Mütterrente waren kostspielige Fehler.
Was waren die Hauptfehler?
Erstens, die Energiepolitik. Merkel meinte, man könne alles auf erneuerbare Energie mit russischem Gas als Grundlastversorgung setzen. Das war eine riesige Fehlkalkulation. Zweitens, die Migrationspolitik. Um dem deutschen Wunsch gerecht zu werden, Weltmeister im Gutmenschentum zu werden, hat sie die Kontrolle über die Grenzen verloren. Drittens, die Europapolitik. Im Zuge der Finanz- und Eurokrise hat sie einem kompletten Umbau der Währungsunion zugestimmt. Diese war mal als „Stabilitätsunion“ohne Gemeinschaftsverschuldung gedacht
gewesen. Schritt für Schritt hat sie alle diese Elemente aufgegeben. Was wir nun haben, ist ein Euro, der viel mehr dem französischen Franc und der italienischen Lira ähnelt als der D-mark.
Hätten Sie mit so einer extremen Inflation gerechnet?
Eine höhere Inflation hat sich schon seit einiger Zeit angedeutet. Ich habe seit einigen Jahren gesagt, diese expansive Geldpolitik der EZB geht nicht gut aus. Das Ganze war abzusehen.
Bekommen wir die Inflation wieder in den Griff?
Ich denke, dass wir nicht mehr dahin kommen werden, wo wir vor der Pandemie waren – also bei einer Inflationsrate von zwei Prozent oder weniger. Ich würde sagen, die Vier ist die neue Zwei.
Wie steht es um die Eurozone?
Da kam zusammen, was nicht zusammenpasst. Um diese Währungsunion langfristig zu stabilisieren, bräuchten wir einen kompletten Neubeginn. Die anstehende Digitalisierung des Euros könnte dazu genutzt werden, die Währung neu aufzustellen.
Wie soll das gehen?
Wir könnten einen „Hart-euro“als digitales Zentralbankgeld kreieren und diesen als optionale Währung für die gesamte EU anbieten – auch für die Länder, die jetzt noch nicht im Euro drin sind. Kein Staatsgeld mehr, mit dem der Staat seine Schulden finanzieren kann, sondern eine harte Währung, die man nutzen kann oder auch nicht. Wer es ohne monetäre Staatsfinanzierung nicht schafft, kann zum Euro eigenes Staatsgeld als Parallelwährung in Umlauf bringen.
Wird das wirklich passieren?
Im Lauf der Geschichte kann es Situationen geben, in denen man erkennt, dass es so nicht mehr weitergeht und man besser etwas grundlegend verändert – also die Flucht nach vorne antritt. Am schlimmsten wäre es, wenn der Euro unkontrolliert zerfallen würde. Dann würde die gesamte Europäische Union zerfasern.
Sie üben scharfe Kritik an der Ära Merkel. Wie sehen Sie eigentlich Gerhard Schröder und seine Russland-connections?
Ich habe ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Gerhard Schröder. Auf der einen Seite hat er sich – im Übrigen auch Steinmeier – um
den Wirtschaftsstandort Deutschland mit seiner „Agenda 2010“enorm verdient gemacht. Das waren die größten Wirtschaftsreformen seit Ludwig Erhard. Merkel hat davon wesentlich profitiert. Auf der anderen Seite hat Schröder dieses Verdienst wieder entwertet, indem er beim russischen Staat angeheuert hat. Er hat sich an Putin verkauft. Das ist schwer zu verstehen.
Hat auch die Wirtschaft Fehler gemacht?
Ja, absolut. Die Wirtschaft hat die Energiepolitik lange Zeit beklatscht, weil es billiges Gas gab. Dass Unternehmen nach den eigenen Interessen handeln, kann man ihnen aber schwer vorwerfen. Auch hier hätte die Politik mehr führen, einen Rahmen setzen müssen, damit die berechtigte Verfolgung der Eigeninteressen der Wirtschaft nicht auf Kosten der Allgemeinheit geht. Auch das wurde nicht getan.
Vom Krieg waren selbst die Experten überrascht. Haben Sie das so kommen sehen?
Man hätte damit rechnen sollen. Das kann man nicht schönreden. Man wusste spätestens seit 2014, dass Putin mit einer aggressiven Politik Großrussland wiederherstellen will. Unsere Politiker haben das lange ignoriert. Die Warnungen des Us-geheimdienstes Ende 2021, dass der Überfall auf die Ukraine bevorsteht, wurden als Kriegsgetrommel abgetan. Man hat die Gefahr nicht ernst genommen, aber es war ein Desaster mit Ansage. Allerspätestens seit der Krim-annexion war klar, dass Putin kein Freund der westlichen Demokratien ist, zu denen die Ukraine aufschließen will. Spätestens von da an hätten die Fragezeichen zu seinen Absichten
immer größer werden müssen. Man wollte das kommende Unheil einfach nicht sehen.
Vor gut einem Jahr wurde die „Zeitenwende“ausgerufen. Ist das glaubwürdig?
Es war schon eine bemerkenswerte Rede des Kanzlers im Bundestag. Ich war davon beeindruckt. Endlich wurde die Realität anerkannt. Olaf Scholz ist für Überraschungen gut, und er kann auch mal Pflöcke einschlagen. Was dann aber kam, war Zeitverschwendung aufgrund seiner großen Zögerlichkeit.
Wie beurteilen Sie die deutsche Politik seit Kriegsausbruch?
Man hat sich schwergetan, in die Gänge zu kommen. Aber dann wurde doch einiges geleistet – bis hin zu den Panzer-lieferungen. Deutschland ist näher an die USA herangerückt, während sich andere Länder der EU deutlich mehr zurückhalten. Leider gilt das positive Urteil nicht für die Energiepolitik. Dass wir angesichts der Unsicherheit bei der Energieversorgung sichere Kernkraftwerke abschalten, ist rational nicht nachzuvollziehen, sondern grüner Ideologie geschuldet. Der Atomausstieg scheint den Grünen wichtiger als der Klimaschutz. Dafür lassen sie dann lieber Kohle verfeuern.
Wie müssen sich die deutschen Unternehmen in der sichtlich raueren Welt aufstellen?
Die Unternehmen brauchen einen Plan B, einen Plan für den Fall, dass wir eines Morgens aufwachen und hören, China hat Taiwan überfallen. Wir dürfen nicht wieder völlig unvorbereitet von einem Krieg überrascht werden, wie es uns mit Russland passiert ist. Wenn zum Beispiel die BASF ein großes Werk in China aufbaut, müssen die Manager mitbedenken, dass die Verbindungen dorthin möglicherweise gekappt werden könnten. Eigentlich müsste jeder Risikomanager in jeder international tätigen Firma ein solches Szenario schon einmal durchgespielt haben.
Passiert das in der Wirtschaft?
Ich vermute es. Aber es ist für die Unternehmen unterschiedlich schwierig. Wenn ich über Jahre hinweg alles auf China gesetzt habe – wie etwa VW –, dann werde ich natürlich Schwierigkeiten haben, mich umzuorientieren. Aber viele Unternehmen diversifizieren ihre Aktivitäten.
Wie beurteilen Sie den Standort Deutschland? Sind wir gerüstet für den stärkeren globalen Wettbewerb?
Ein bisschen erinnert mich die Lage an 2002, als wir der „kranke Mann Europas“genannt wurden. Damals gab es die Schröder’sche Blut-schweiß-und-tränen-rede und die „Agenda 2010“wurde lanciert. Wir sind derzeit tatsächlich an einem Scheideweg – nicht nur politisch, auch wirtschaftlich. Wir müssen uns bei der Energieversorgung neu aufstellen. Wir müssen die neueste Herausforderung auf dem Gebiet der digitalen Technologie, die Künstliche Intelligenz, aufnehmen. Allein die fünf großen Ustech-unternehmen haben 2022 dort mehr investiert als die deutsche Industrie insgesamt – und zwar deutlich mehr. Und wir müssen mit der Alterung der Bevölkerung fertigwerden, unser Bildungssystem reformieren und die Migrationskrise bewältigen. Wir bräuchten jetzt eine „Agenda 2030“, denn die Zeit drängt.
Wird diese kommen?
Ich befürchte, dass die Bundespolitik zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, als dass sie diese Herausforderungen, die da auf uns zukommen, richtig wahrnimmt. Experten, Manager und Unternehmer sprechen ja bereits von der bevorstehenden Deindustrialisierung Deutschlands. Noch haben wir eine gute Substanz, es ist enorm viel da. Aber das wird schnell verschwinden, wenn wir uns jetzt nicht richtig für die Zeit nach der Zeitenwende aufstellen.
Wird das klappen?
Wenn ich da nach Berlin schaue, habe ich Zweifel. Allein die Tatsache, dass allein aus ideologischen Gründen die Kernkraftwerke abgeschaltet wurden, muss einen skeptisch stimmen. Jeder weiß, dass es Blödsinn ist, aber die politischen Zwänge sind so. Oder nehmen Sie das neue Heizungsgesetz: Wenn es kommt, wie von der Regierung beschlossen, kann jeder Besitzer eines älteren Gebäudes zehn bis 20 Prozent seines Vermögens abschreiben. Haben die Politiker mal durchgerechnet, was das für das Land insgesamt bedeutet? Ich glaube nicht. Mit einem Federstrich der Regierung wird eine riesige Menge an vorhanden geglaubtem Vermögen eliminiert. Die Berliner Politikblase und die Realität klaffen weit auseinander. Das ist die größte Gefahr für den Wohlstand im Land.
Was müsste passieren?
Wir brauchen eine echte Deregulierungskampagne. Und wir können nicht überall immer noch mehr Geld draufsatteln. Statt immer neue Sonderschulden zu machen, sollten wir Prioritäten setzen. Wir müssen uns überlegen, was wir uns noch leisten können und was nicht mehr. Es braucht eine Erneuerung unseres Landes – und zwar schnell. Vielleicht klappt es ja, denn unverhofft kommt bekanntlich oft.