Ein Bühnenstück als Straftat
In Moskau werden zwei Theaterfrauen dem Amtsrichter vorgeführt – Sie sollen mit einem Drama den Terrorismus des „Islamischen Staats“gerechtfertigt haben
- Die Heldin ist eine Närrin. Sie habe sich dem „Islamischen Staat“angeschlossen, um zu kochen, zu waschen und Gattin zu sein, wie der Allmächtige und die eigene Physiologie ihr befohlen hätten. Und um ihrem geliebten Mann Mäusespeck zu kochen.
Das Schauspiel „Finist Heller Falke“erforscht ironisch, aber mit Mitgefühl die Seelen junger Russinnen, die sich in den vergangenen Jahren zu Tausenden mit „Gotteskriegern“verheirateten und der Terrororganisation „Islamischer Staat“anschlossen. Das angesehenste Theaterfestival Russlands, die „Goldene Maske“, zeichnete es 2022 mit goldenen Masken für Text und Kostüm aus.
Am Freitag aber wurden seine Macherinnen, die Regisseurin Jewgenia Berkowitsch und die Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk, in Moskau einem Haftrichter vorgeführt. Gegen sie läuft ein Strafverfahren wegen „der Rechtfertigung von Terrorismus“, das erste Strafverfahren im postsowjetischen Russland gegen ein Theaterstück.
Das Drama mischt Elemente des russischen Volksmärchens vom Mädchen Marusja, das ihrem geliebten Helden Finist durch 27 Länder folgt, mit Protokollen realer Gerichtsprozesse gegen russische Islamisten-frauen. Nach Ansicht der Kritiker propagiert die Aufführung keineswegs Terrorismus, sondern kritisiert das Patriarchat. Das aber hinderte zwei
Aktivisten der antiwestlichen Gruppe NOD nicht daran, Finist im Mai 2021 auf dem Portal Nazionalnyj Kurs an den Pranger zu stellen. Es handle sich um ein „antirussisches“Schauspiel, heroisiere die Guerilleros des IS und sei ein Instrument des westlichen Informationskriegs gegen Russland. „Wir bitten die Rechtsschutzorgane, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten.“
Eine wüste Anschuldigung, zumal die Heldin Marusja auf der Bühne selbst den feindlichen Westen und Russland in einem Atemzug tadelt: „zu Hause gibt es keine Männer, keine Überzeugungen, nur Halbheiten." Männer wie ihren Finist gäbe es in der modernen westlichen Gesellschaft kaum noch. „Stark, furchtlos, bereit, für seine Ideale zu töten …“
Die Autoren dieses Theaterstücks anzuklagen, sei, als würde man Fjodor Dostojewskij für seinen Roman „Schuld und Sühne“verhaften, spottet der Politologe
Alexander Baunow auf Telegram, „wegen der Rechtfertigung von Greisinnenmord“.
Die Behörden reagierten mit zwei Jahren Verspätung auf die Nod-denunziation. Vermutlich auch deshalb, weil Jewgenia Berkowitsch, eine Schülerin des inzwischen emigrierten Avantgarde-regisseur Kirill Serebrennikow, inzwischen lautstark, auch mit Gedichten, gegen Putins „Kriegsspezialoperation“in der Ukraine protestierte. Und weil der russische Staatsapparat begonnen hat, die Theaterszene von kritischen Aufführungen und unbequemen Figuren zu säubern. „Das Verfahren, das man gegen sie schneidert, scheint mit den Veränderungen im Ministerium für Kultur zusammenzuhängen“, erklärt die Theaterkritikerin Jelena Kowalskaja. Im Ministerium strebe man offenbar auch die Vereinnahmung oder Vernichtung des unabhängigen und als liberal verschrienen Theaterfestivals „Goldene Maske“an. „Es ist wohl kein Zufall, dass staatsnahe Telegramkanäle das Verfahren wegen Rechtfertigung von Terrorismus mit den zwei Auszeichnungen des Festivals für das Stück verknüpfen.“Russlands Theaterszene drohen weitere Repressalien.
Auf der Bühne wird Marusja, die Heldin des dokumentarischen Märchens, am Ende als Beihelferin einer illegalen bewaffneten Vereinigung zu einem Jahr Haft verurteilt. Jewgenia Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk drohen jetzt bis zu sieben Jahre Haft.