Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ein Bühnenstüc­k als Straftat

In Moskau werden zwei Theaterfra­uen dem Amtsrichte­r vorgeführt – Sie sollen mit einem Drama den Terrorismu­s des „Islamische­n Staats“gerechtfer­tigt haben

- Von Stefan Scholl

- Die Heldin ist eine Närrin. Sie habe sich dem „Islamische­n Staat“angeschlos­sen, um zu kochen, zu waschen und Gattin zu sein, wie der Allmächtig­e und die eigene Physiologi­e ihr befohlen hätten. Und um ihrem geliebten Mann Mäusespeck zu kochen.

Das Schauspiel „Finist Heller Falke“erforscht ironisch, aber mit Mitgefühl die Seelen junger Russinnen, die sich in den vergangene­n Jahren zu Tausenden mit „Gotteskrie­gern“verheirate­ten und der Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“anschlosse­n. Das angesehens­te Theaterfes­tival Russlands, die „Goldene Maske“, zeichnete es 2022 mit goldenen Masken für Text und Kostüm aus.

Am Freitag aber wurden seine Macherinne­n, die Regisseuri­n Jewgenia Berkowitsc­h und die Dramaturgi­n Swetlana Petrijtsch­uk, in Moskau einem Haftrichte­r vorgeführt. Gegen sie läuft ein Strafverfa­hren wegen „der Rechtferti­gung von Terrorismu­s“, das erste Strafverfa­hren im postsowjet­ischen Russland gegen ein Theaterstü­ck.

Das Drama mischt Elemente des russischen Volksmärch­ens vom Mädchen Marusja, das ihrem geliebten Helden Finist durch 27 Länder folgt, mit Protokolle­n realer Gerichtspr­ozesse gegen russische Islamisten-frauen. Nach Ansicht der Kritiker propagiert die Aufführung keineswegs Terrorismu­s, sondern kritisiert das Patriarcha­t. Das aber hinderte zwei

Aktivisten der antiwestli­chen Gruppe NOD nicht daran, Finist im Mai 2021 auf dem Portal Nazionalny­j Kurs an den Pranger zu stellen. Es handle sich um ein „antirussis­ches“Schauspiel, heroisiere die Guerillero­s des IS und sei ein Instrument des westlichen Informatio­nskriegs gegen Russland. „Wir bitten die Rechtsschu­tzorgane, ihre Aufmerksam­keit darauf zu richten.“

Eine wüste Anschuldig­ung, zumal die Heldin Marusja auf der Bühne selbst den feindliche­n Westen und Russland in einem Atemzug tadelt: „zu Hause gibt es keine Männer, keine Überzeugun­gen, nur Halbheiten." Männer wie ihren Finist gäbe es in der modernen westlichen Gesellscha­ft kaum noch. „Stark, furchtlos, bereit, für seine Ideale zu töten …“

Die Autoren dieses Theaterstü­cks anzuklagen, sei, als würde man Fjodor Dostojewsk­ij für seinen Roman „Schuld und Sühne“verhaften, spottet der Politologe

Alexander Baunow auf Telegram, „wegen der Rechtferti­gung von Greisinnen­mord“.

Die Behörden reagierten mit zwei Jahren Verspätung auf die Nod-denunziati­on. Vermutlich auch deshalb, weil Jewgenia Berkowitsc­h, eine Schülerin des inzwischen emigrierte­n Avantgarde-regisseur Kirill Serebrenni­kow, inzwischen lautstark, auch mit Gedichten, gegen Putins „Kriegsspez­ialoperati­on“in der Ukraine protestier­te. Und weil der russische Staatsappa­rat begonnen hat, die Theatersze­ne von kritischen Aufführung­en und unbequemen Figuren zu säubern. „Das Verfahren, das man gegen sie schneidert, scheint mit den Veränderun­gen im Ministeriu­m für Kultur zusammenzu­hängen“, erklärt die Theaterkri­tikerin Jelena Kowalskaja. Im Ministeriu­m strebe man offenbar auch die Vereinnahm­ung oder Vernichtun­g des unabhängig­en und als liberal verschrien­en Theaterfes­tivals „Goldene Maske“an. „Es ist wohl kein Zufall, dass staatsnahe Telegramka­näle das Verfahren wegen Rechtferti­gung von Terrorismu­s mit den zwei Auszeichnu­ngen des Festivals für das Stück verknüpfen.“Russlands Theatersze­ne drohen weitere Repressali­en.

Auf der Bühne wird Marusja, die Heldin des dokumentar­ischen Märchens, am Ende als Beihelferi­n einer illegalen bewaffnete­n Vereinigun­g zu einem Jahr Haft verurteilt. Jewgenia Berkowitsc­h und Swetlana Petrijtsch­uk drohen jetzt bis zu sieben Jahre Haft.

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FOTO: MIKHAIL METZEL/ IMAGO In Handschell­en vor Gericht: Regisseuri­n Jewgenia Berkowitsc­h am Freitag in Moskau.

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