Schlaganfall, Magenblutung, Fehlalarm
Was Rettungssanitäter in einer Schicht so alles erleben
- Christof Stier steht am Herd und rührt in einer Pfanne. Mittagessen gibt es heute erst um 14 Uhr. Vorher war keine Zeit zum Essen. Denn vorher war er bei einer Schülerin, die gestürzt war und medizinische Hilfe brauchte. Christof Stier ist Rettungssanitäter. Heute hat er zusammen mit Notfallsanitäterin Julia Hörl Dienst in der Rettungswache der Johanniter in Ravensburg. Wenn jemand schnell Hilfe benötigt, rücken sie mit dem Rettungswagen aus. Dann muss alles andere warten. Auch das Mittagessen. Was genau während ihrer Schicht auf sie zukommt, wissen die beiden vorher nicht.
Ihre Schicht hat heute um 7 Uhr begonnen und geht bis 19 Uhr. Am Vormittag gab es schon drei Einsätze, berichten sie. Zuerst wurden sie zu einer Frau gerufen, die eine Magenblutung hatte. Mit dem Rettungswagen brachten sie die Frau ins Krankenhaus. Beim zweiten Patienten bestand Verdacht auf Schlaganfall. Auch er wurde zur weiteren Behandlung in eine Klinik gebracht. Dann folgte der Einsatz an einer Schule. Eine Schülerin hatte sich bei einem Sturz verletzt. Sie hatte starke Schmerzen und bekam von Julia Hörl ein Schmerzmittel.
Ihre Einsätze bekommen sie von der Integrierten Leitstelle Bodensee/oberschwaben. Dort gehen täglich rund 400 Notrufe aus den Landkreisen Ravensburg, Bodenseekreis und Sigmaringen ein. Diese werden an eine von insgesamt 32 Rettungswachen und 16 Notarztstandorte in diesem
Gebiet weitergegeben, je nachdem, wer am schnellsten am Einsatzort sein kann. Im Gebiet der Leitstelle Bodensee/oberschwaben gibt es Rettungswachen von den Johannitern, vom Roten Kreuz, von den Maltesern sowie vom Kap-rettungsdienst.
Christof Stier und Julia Hörl haben jetzt Zeit, eine Pause zu machen und etwas zu essen. In der Rettungswache gibt es eine Küche mit Sitzecke, denn hier ist rund um die Uhr Betrieb. Je nach Schicht bereiten sich Kolleginnen und Kollegen hier ihr Frühstück, Mittagessen oder Abendessen zu. Und nicht selten kommen die Zeiten dabei ein bisschen durcheinander. „Manchmal frühstücke ich erst um 12“, sagt Christof Stier und lacht. Und Julia Hörl berichtet, dass sie vor Kurzem erst abends um 22 Uhr Zeit für ihr mitgebrachtes Mittagessen hatte.
An der Küchenwand hängt ein Bild, von einem Kind gemalt, und auch eine Karte mit Dankesworten einer ehemaligen Patientin. Über solche Gesten freuen sich die Sanitäter. Dass sich jemand bedankt, komme aber nicht mehr so oft vor, sagen sie. Dafür erleben sie immer öfter aggressives Verhalten von Patienten oder auch von Unbeteiligten, die sich zum Beispiel beschweren, dass ihnen der Rettungswagen im Weg steht.
Während Christof Stier und Julia Hörl am Küchentisch sitzen, kommt über die Leitstelle ein weiterer Notruf rein. Diesen Einsatz übernehmen die Kollegen vom Frühdienst, die noch bis 15 Uhr Schicht haben. Als sie kurz darauf zurückkehren, erzählen sie von einem alkoholisierten Mann, der auf der Straße gestürzt war. Passanten
hatten den Rettungsdienst gerufen. Doch der Mann habe sehr deutlich klar gemacht, dass er keine Hilfe wolle und sei weggelaufen, berichten die beiden Sanitäter. Und dann herrscht Ruhe. Auch das gibt es in der Rettungswache. Kein Notruf, kein Einsatz. Christof Stier nutzt die Gelegenheit für Computerarbeit, Julia Hörl sortiert mit Kollegen Wäsche ein. Die Einsatzkleidung der Johanniter wird regelmäßig gereinigt und dann wieder nach Größen sortiert in den Schrank eingeräumt. Gelegenheit für ein Gespräch über den Beruf Notfallsanitäterin. Warum hat sich Julia Hörl dafür entschieden? Einen speziellen Grund könne sie gar nicht nennen, sagt die 24-Jährige. Sie sei schon als Jugendliche im Schulsanitätsdienst aktiv gewesen. Seit rund einem Jahr ist sie hauptberufliche Vollzeitkraft in der Rettungswache. Notfallsanitäter sind bei Einsätzen hauptsächlich für die Versorgung der Patienten zuständig, erklärt sie. Rettungssanitäter lenken meist
das Einsatzfahrzeug und assistieren dann vor Ort den Notfallsanitätern bei der Versorgung von Kranken oder Verletzten.
Auf die Frage nach ihrem bisher schlimmsten Einsatz, sagt Julia Hörl: „Ich war dieses Jahr bei vielen Verkehrsunfällen, das war nicht so schön.“Es seien aber nicht nur besonders schlimme Einsätze, die einem nahe gehen. „Da reicht auch ein Krebspatient, der gerade noch im Urlaub war und dem es jetzt aber so schlecht geht, dass man ihn nur noch an den Palliativdienst verweisen kann.“Belastend sei es für sie auch, wenn sie das Gefühl habe, den Angehörigen von Patienten nicht genug helfen zu können. Bisher schaffe sie es aber, solche Erlebnisse von Einsätzen nicht mit nach Hause zu nehmen.
Während die 24-Jährige gerade ihr erstes Berufsjahr hinter sich hat, ist Christof Stier ein „alter Hase“und kennt den Rettungsdienst seit 36 Jahren. Seit 2000 ist er als hauptamtlicher Rettungssanitäter bei den Johannitern, außerdem ist er stellvertretender Leiter der Rettungswache. Auf dem Weg zu Einsätzen ist Christof Stier der Fahrer. Oft muss er den Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn so schnell wie möglich durch den Straßenverkehr steuern. Ob er dabei angespannt ist? „Nein, gar nicht“, sagt der 56-Jährige. Aber natürlich müsse man konzentriert sein. „Und ich muss immer fünf Schritte weiter vorausdenken als andere Autofahrer.“
Durch die langjährige Erfahrung könne er inzwischen oft ahnen, wie andere Verkehrsteilnehmer auf den Rettungswagen reagieren. So gebe es einen „Klassiker“, der immer wieder passiere, sagt Christof Stier: „Wenn vor mir vier Autos fahren, und ich komme mit Blaulicht und Martinshorn, dann reagieren oft drei Autofahrer richtig und fahren rechts ran, aber der vierte bemerkt mich nicht, erschrickt, weil die anderen an den Straßenrand fahren, und schert aus.“Dann muss Christof Stier in Sekundenbruchteilen entscheiden, ob er auch abbremsen muss, oder ob es Platz zum Ausweichen gibt. „Neue Fahrzeuge sind oft so gut isoliert, dass die Leute das Martinshorn kaum noch hören“, sagt er.
Der Piepser am Hosenbund schlägt Alarm. Die Leitstelle meldet den nächsten Einsatz: Nachbarn haben den Notruf gewählt, weil sie fürchten, dass einer älteren Dame etwas zugestoßen sein könnte. Auf Anrufe und Türklingel habe die Frau nicht reagiert. Julia Hörl und Christof Stier fahren los. Draußen ist es bereits dunkel. Das hat einen Vorteil, erklärt Christof Stier: Bei Dunkelheit
sieht man das Blaulicht besser, und die Autofahrer erkennen früher, dass sich ein Einsatzfahrzeug nähert. Das Navi im Rettungswagen leitet ihn zum Einsatzort. Blaulicht und Martinshorn sind eingeschaltet. Mit Tempo 80 fährt der Rettungswagen durch den Ort.
Dann biegt Christof Stier auf die Bundesstraße ein. Dort ist mehr Verkehr, es ist Feierabendzeit. Er beschleunigt auf Tempo 130. Die Autos vor ihm fahren an den Straßenrand, auch die Fahrer auf der Gegenspur bremsen ab und fahren rechts ran. Dann kommt eine Kreuzung, die Ampel ist rot. Der Rettungswagen wird langsamer, auch hier reagieren die Autofahrer schnell und machen Platz. „Sehr vorbildlich“, lobt Christof Stier. Am Einsatzort angekommen, treffen die Sanitäter auf Polizei und Feuerwehr.
Die Wohnungstür soll aufgebrochen werden, um nach der älteren Dame sehen zu können. Drei Feuerwehrleute sind schon mit Bohrern an der Arbeit. Julia Hörl und Christof Stier warten im Treppenhaus. Sie haben einen Defibrillator dabei. Wenn es zu solchen Türöffnungen kommt, gehe es meist nicht gut aus, sagt Julia Hörl. Oft finden die Einsatzkräfte dann eine tote Person in der Wohnung. „Die Tür ist auf“, ruft ein Feuerwehrmann. Eine Polizistin geht als erste hinein, Julia Hörl und Christof Stier folgen. Dann hört man Stimmen. Christof Stier reckt beide Daumen nach oben: Die ältere Dame ist wohlauf. Offenbar hatte sie weder das Telefon noch die Türklingel oder den Bohrer der Feuerwehr gehört. Alle sind erleichtert.