Ohne Worte in eine andere Welt
Mit einem Aborigine im Regenwald unterwegs – Im australischen Daintree National Park lebt die Kultur der Ureinwohner weiter – Was der weiße Gast dort erlebt
Regen. Natürlich Regen. Der Name Regenwald kommt ja nicht von ungefähr. Wobei der Regen wie Regenstaub wirkt, feiner noch als Niesel, als seien die Tropfen durch ein unsichtbares Sieb gepresst worden. Das Dach des Waldes ist dicht, mehr als 50 Meter hoch. Jede Pf lanze kämpft um Licht und Wasser. Jeder Regentropfen trifft unzählige Male auf Bäume, Blätter, Äste, Tiere, wird kleiner, verstäubt sich, ehe er ganz unten angelangt, fein, weich und sich über Kopf und Körper legt wie ein Film. Unten, da marschieren Gabal und ich, schon seit sechs Stunden – irgendwo mitten im australischen Regenwald, ohne Pfad und Karte, aber mit Ziel.
Eigentlich heißt Gabal C. J. Das steht für Collin John. So heißt Gabal draußen, in der Zivilisation, in dieser tristen Ghetto-siedlung der Gorge Community nahe Mossman. Drinnen, im Wald seines Stammes, der Kuku Yalanji, ist sein Name Gabal, wie der Baum, unter dem er geboren wurde. Sein Regenwald ist ein National Park, seit 1988 gilt er als Weltnaturerbe der Unesco und ist die Heimat von 20 Aborigine-stämmen. Eigentlich wollte ich mit dem 51-jährigen C. J. nur ein Interview machen: über die heilenden Wasser und Massagemethoden der Kuku Yalanji. Jetzt bin ich mittendrin im Daintree National Park, in einem Garten Eden, der einen ernähren kann, der einen heilen kann, der das Leben ist für Gabal. C. J. hat mich draußen eingeladen mit den Worten: „Ihr Europäer interessiert euch wirklich für uns. Das spüre ich.“Und dann nahm mich Gabal einfach mit.
Einst wurden die Aborigines gejagt, dann geächtet, bis heute sind sie nicht hundertprozentig akzeptiert. Erst seit 1998, als sich der damalige Premierminister Kevin Rudd bei den Aborigines entschuldigte, hat sich überhaupt etwas getan. Aber wildes langes Haar mit grauen Strähnen, ein zottiger Bart, Falten im klobigen Gesicht, ein Schneidezahn fehlt – ein Zeichen, dass der Aborigine initiiert ist –, das wird von den meisten Weißen immer noch als verwahrlost betrachtet, nicht als traditionelles Erscheinungsbild.
Sein Territorium ist so ganz anders, als es die Fahrt mit der Skyrail vermittelt, einer Gondelbahn, die über einen kleinen Teil des Daintree National Parks gebaut wurde. Sein Regenwald ist auch so ganz anders als der, den der weiße Ranger erklärt, umringt von zwei Dutzend Touristen. Gabal zeigt mir sein Leben. Ohne Worte. Was ich nicht wusste: Er zeigt es mir zwei Tage und eine Nacht lang. Unvermittelt sind wir mitten im Interview aufgebrochen.
Gabal trinkt. Nimmt Wasser aus einem Trichter aus Blättern, den er am Auslauf verstopft hatte. Das Wasser hat sich beim Gehen angesammelt. Er reicht mir den Blättertrichter. Auch ich trinke. Aus dem Gespräch ist Schweigen geworden. Ein stundenlanges Schweigen, das trotzdem so vieles erzählt, weil mir Gabal mit Blicken kleine Geheimnisse des Waldes zeigt: perfekt getarnte Tiere, an denen ich vorbeigestolpert wäre, Blätter, die er zwischen den Fingern zerreibt, die dann ätherische Öle freigeben, kleine Beeren als schmackhafter Snack zwischendurch. Alles passiert wortlos. Auf meine ersten Fragen im Wald erntete ich eine Antwort durch seine Körpersprache: Nicht reden hier. Ich zeige dir doch alles.
Wir kommen zu Höhlen an einer von außen unscheinbaren Felsformation. Gabal deutet auf kunstvoll bemalte Felsen und glücklicherweise denke ich in diesem Moment nur an meine Kamera, aber ich benutze sie nicht, weil ich damit Gabal und seine Vorfahren beleidigen würde.
In der Nähe macht er Abendessen. Gabal zeigt, wie man aus Samen, Beeren und Insekten schnell eine einfache, durchaus schmackhafte Mahlzeit bereitet, trägt nebenbei eine ganze Reihe von Kräutern zusammen, die als Medizin verwendet werden. Pepperomia ist gegen Erkältungen, die Blüte des Ti-baums gegen
Bauchweh, seine Blätter zerrieben erzeugen Wärme und helfen gegen Verrenkungen oder Muskelverhärtungen. Mit Pea-blättern kann man sich ein Entspannungsbad machen und Bidi-bidi wirkt antiseptisch.
Wir trinken Rattan-wasser und essen zum Nachtisch Mandeln, nicht richtige, aber Jambalmandeln, die fast genauso schmecken wie unsere. Mit Balzlauten lockt Gabal Vögel an und einem handflächengroßen Schmetterling bietet er ein gebrochenes
Blatt. Der schöne Flattermann saugt und kann scheinbar gar nicht genug davon bekommen.
Am nächsten Tag, als wir wieder draußen sind, erklärt mir C. J., sozusagen von Mann zu Mann, warum der Schmetterling gekommen ist: „Sex, Drugs und Rock’n’roll“, lacht C. J. „So ein männlicher Schmetterling lebt nur 18 Tage. In dieser Zeit trinkt er die 50-fache Menge Alkohol, die er eigentlich vertragen würde, tanzt dementsprechend froh gelaunt durch die Lüfte, bis er ein Weibchen findet, das mit ihm 48 Stunden ohne Unterbrechung Liebe macht ... Und diese Blätter mit ihren ätherischen Ölen locken diese Kerle magisch an!“
Die Nacht ist unangenehm. Ich mache kein Auge zu. Das Bett aus Blättern und Zweigen nimmt mir nicht die Angst vor kriechendem Ungeziefer. Immerhin gibt es auch Pythons von vier Metern Länge in diesem National Park, Spinnen, fiese rote Ameisen und etwa 3000 weitere nachtaktive Spezies. Aber ich vertraue auf Gabal. Er würde das Lager nicht in der Nähe von roten Ameisen aufschlagen und Gefahr, etwa von Schlangen, spüren, denke ich – hoffe ich ... Und Gabals Moskitoabwehr
hilft bestens. Dazu hatte er alte Rinde bestimmter Bäume gesammelt, zündete sie an und jetzt glimmt sie langsam vor sich hin.
Wenn man meint, die Nacht sei gänzlich still, dann täuscht man sich gewaltig. Dieser Regenwald ist rund 150 Millionen Jahre alt. Er befindet sich immer noch in einem Stadium der Evolution, die offensichtlich besonders nachts im Gange ist. Es pfeift, blubbert, knackt, es gibt Geräusche, die ich zuvor noch nie gehört habe – permanent, durchdringend, beängstigend. Nur das sonst nachts bestimmende Moskito-surren spielt keine Rolle, der glimmenden Rinde sei Dank.
Gabal hat das Lager unter seinem Geburtstagsbaum gewählt, ein unauffälliger Laubbaum, unser Ziel. Er wurde in der Trockenzeit geboren, deshalb war sein Stamm im Wald. Wäre es die Regenzeit gewesen, wäre Gabal ein Kind des Meeres geworden. Nur wenige Schritte weiter: ein Moafarn, den es schon in der Dinosaurierzeit gab, und ein Stinging Tree. Die Blätter des Giftbaums brennen auf der Haut, wenn man sie berührt. Der Mensch hat zwei Wochen lang Schmerzen nach einer Berührung, die kleinen Baumfröschchen dagegen hüpfen in aller Gemütsruhe von Blatt zu Blatt.
Es wird hell, wir marschieren zurück. Ducken uns unter Wait-awhiles hindurch, dornige Ranken, die herabhängen wie wirres Haar und an allem kleben bleiben, was sie berührt. Jeder männliche Aborigine der 20 Stämme im Daintree Wald hat das Wissen von Gabal. Noch heute leben viele Stämme in einer strengen Hierarchie, die gegliedert ist nach Alter und Wissen. Berge oder Flüsse gelten als Lebensraumgrenzen und der ungeschriebene Verhaltenskodex wird durch Tänze und Gesänge von Generation zu Generation überliefert. Und in Gabals Stamm, den Kuku Yalanji, muss jeder Junge in seinem Leben 18 Monate lang alleine im Regenwald überleben. Erst dann ist er initiiert: Erst dann ist er ein Mann.
Die Sonne blinzelt durch das Dach des Waldes. Es wird spürbar lichter, wir verlassen also langsam das Drinnen – und Gabal spricht auch wieder mit mir. Gabal? Nein, wir sind jetzt draußen und Gabal ist wieder C. J.