Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Polens Schattenma­nn

Jaroslaw Kaczynski begeht seinen 70. Geburtstag auf dem Höhepunkt seiner Macht – er lenkt die Geschicke des Landes, ohne selbst ein Amt innezuhabe­n.

- VON ULRICH KRÖKEL BERLIN/WARSCHAU

Jaroslaw Kaczynski spaltet Polen. Um das zu belegen, könnte man Umfragen und Studien zitieren. Man kann den Chef der erzkonserv­ativen Regierungs­partei PiS aber auch selbst zu Wort kommen lassen, etwa wenn er Demonstran­ten beschimpft: „Diese Leute gehören zur schlechtes­ten Sorte von Polen. Der Verrat ist ihnen in die Gene eingeschri­eben.“Oder wenn er im Parlament der Opposition zuruft: „Wischen Sie sich nicht Ihre Verrätermä­uler am Namen meines in heiliger Erinnerung bleibenden Bruders ab. Sie haben ihn zerstört. Sie sind Schurken.“

Am kommenden Dienstag wird Kaczynski 70 Jahre alt, und mancher emotionale Ausbruch der jüngeren Vergangenh­eit mag der Tatsache geschuldet sein, dass sein Zwillingsb­ruder diesen Geburtstag nicht miterleben kann. Der damalige Staatspräs­ident Lech Kaczynski starb im April 2010 beim Flugzeugun­glück von Smolensk. Bis heute ist sein Bruder Jaroslaw davon überzeugt, dass politische Gegner für die Katastroph­e verantwort­lich waren und ihn „ermordet“haben. Aber als Erklärung für die FreundFein­d-Weltsicht des PiS-Chefs reicht das allein kaum aus. Das zeigte sich zuletzt nach der Europawahl, als Kaczynski von einer „Schlacht um die Zukunft unseres Vaterlande­s“sprach, die im Herbst bevorstehe.

Im Oktober wählen die Polen ihre beiden Parlaments­kammern neu, den Sejm und den Senat. Im kommenden Frühjahr steht die Präsidente­nwahl an. Seit 2015 regiert die PiS auf allen Ebenen, und das heißt auch: Faktisch regiert Jaroslaw Kaczynski, obwohl er weder ein Staatsamt noch einen Kabinettsp­osten innehat. Aber die PiS ist seit ihrer Gründung durch die Kaczynski-Zwillinge im Jahr 2003 „eine Kaderparte­i“, wie es der Soziologe Zbigniew Szczypinsk­i formuliert. In Warschau gilt es daher als offenes Geheimnis, dass Kaczynski die Richtlinie­n der PiS-Politik aus dem Hintergrun­d heraus bestimmt, während Premier Mateusz Morawiecki und seine Minister die Vorgaben auf offener Bühne exekutiere­n.

Eine Zeitlang gab es Vermutunge­n, dass sich der noch junge Staatspräs­ident Andrzej Duda emanzipier­en könnte. Im Sommer 2017 legte Duda ein Veto gegen die umstritten­sten Teile jener Justizrefo­rmen ein, die Polen ein Rechtsstaa­tsverfahre­n der EU-Kommission beschert hatten. Am Ende setzte sich aber Kaczynski durch und gab bald darauf seinen Segen für eine erneute Kandidatur Dudas bei der Präsidente­nwahl 2020. Die Opposition­spolitiker­in Joanna Mucha von der rechtslibe­ralen Bürgerplat­tform behauptete damals, es handele sich um eine Bewerbung von Gnaden des PiS-Chefs.

Die Rollenvert­eilung in Warschau ist so offenkundi­g, dass sogar ausländisc­he Staats- und Regierungs­chefs bei Besuchen in Polen kaum an Treffen mit Kaczynski vorbeikomm­en, selbst wenn das diplomatis­che Protokoll Probleme bereitet. In lebhafter Erinnerung geblieben ist etwa eine Begegnung von Bundeskanz­lerin Angela Merkel mit dem PiS-Chef in einem Hotelzimme­r im Februar 2017, das den offizielle­n Teil der Visite vollkommen überlagert­e. Aber auch Ungarns Premier Viktor Orbán trifft sich regelmäßig mit Kaczynski, und zuletzt machte Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini dem PiS-Chef seine Aufwartung.

Die Fragen, ob und wann der bald

70-jährige Schattenma­nn ins Rampenlich­t treten und sich selbst zum Regierungs­chef erklären könnte, sind verstummt. Die meisten Beobachter sind sich einig, dass Kaczynski lieber aus dem Hintergrun­d heraus lenkt, als sich im Amt aufzureibe­n und durch eine persönlich­e Kandidatur seine Gegner zu mobilisier­en. Dafür spricht, dass der PiSChef sich im vergangene­n Jahr nach einer Operation für einige Zeit ganz aus der Öffentlich­keit zurückzieh­en musste. Boulevardm­edien heizten damals Spekulatio­nen an, Kaczynski werde nach der Präsidente­nwahl

2020 aus der Politik aussteigen. Wer Kaczynski in diesem Frühling seines 70. Geburtstag­es zuhört, der kann leicht den gegenteili­gen Eindruck gewinnen. Der Auftritt des PiS-Chefs am Abend der Europawahl, die seine Partei mit unerwartet starken 45,5 Prozent klar gewonnen hatte, ließ kaum einen Zweifel daran, dass er an vorderster Front in die „Schlacht um die Zukunft des Vaterlande­s“ziehen will: „Wir haben viel erreicht, aber es ist noch zu wenig, zu wenig, zu wenig“, rief er seinen Anhängern zu.

Wird also Kaczynski nach den anstehende­n Wahlen doch das tun, was er 2006 schon einmal getan hat und die Regierungs­geschäfte selbst übernehmen? Vor 13 Jahren scheiterte er mit dem Versuch, in Polen eine neue, nationalko­nservativ-katholisch geprägte Vierte Republik zu errichten. Die Wähler straften die PiS schon 2007 dramatisch ab. Aber die Zeiten haben sich gewandelt. In den USA regiert der 73-jährige Donald Trump, und Viktor Orban hat in Ungarn eine illiberale Demokratie errichtet. Sicher scheint in Warschau derzeit nur eins: Eine Rente mit 70 ist für Jaroslaw Kaczynski keine Option.

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