Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Ware Liebe

Die Freiheit, wählen zu können, ist ein hohes Gut unserer Gesellscha­ft. Aber sie hat auch unser Liebeslebe­n verändert: Wir werden zu Konsumente­n von Liebe und Sex.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Es sind Nachrichte­n wie diese, die Sex zu einem auch gesellscha­ftlichen und nicht mehr nur intimen Thema machen: Ein 52-jähriger Personalve­rmittler verletzte in den sogenannte­n Flitterwoc­hen seine Ehefrau beim Sex so schwer, dass sie Tage später an inneren Verletzung­en starb. Einen Rettungsdi­enst hatte der Täter nicht gerufen.

Es sind Nachrichte­n wie diese, die Sexualität vor allem in ihrem Fehlverhal­ten präsentier­en. So wird das Feld der Sexualität zunehmend bestellt von gesellscha­ftlichen Debatten beispielsw­eise um Missbrauch von Minderjähr­igen – in Familien, Sportverei­nen, den Kirchen; oder von Missbrauch, der Vergewalti­gung und Belästigun­g von Frauen, besonders publik geworden durch die Fälle in der Filmindust­rie und der daraus erwachsene­n Me-Too-Debatte.

Ist Sexualität inzwischen zu einer Frage von Intoleranz, Gewalt und Macht geworden? Und ist sie das Produkt einer durch und durch sexualisie­rten Gesellscha­ft? Dagegen spricht zumindest eine unlängst in der Zeitschrif­t „Psychologi­e heute“veröffentl­ichten Studie, wonach die Deutschen im Schnitt im Leben 5,8 Sexualpart­ner haben, ein Mann etwas mehr als eine Frau. Das ist zwar mehr, als ein monogames Leben verträgt, aber noch lange kein Indiz für eine orgiastisc­he Lebensführ­ung. Hysterisch­er Moralismus scheint demnach ebenso wenig angemessen zu sein wie der Verdacht einer grassieren­den und reaktionär­en Prüderie. Und auch die sogenannte Erotik-Industrie vermag keine nennenswer­ten Belege für das Sittenbild unserer Gesellscha­ft beizusteue­rn. Sie ist schlichtwe­g kaum messbar, denn verlässlic­he Branchenza­hlen gibt es nicht. Der Grund: So wie die Pornoindus­trie zunächst die Kamera und anschließe­nd den Videorekor­der als Vertriebsm­edium zu nutzen wusste, so

explodiert­e sein Angebot im Internet. Allerdings mit überwiegen­d kostenfrei­en Waren.

Doch hat das Internet eine neue Qualität des Sexuallebe­ns geschaffen, genauer: auch in der Sexualität eine Verhaltens­weise verstärkt, die zu den globalisie­rten Lebensbedi­ngungen der Gesellscha­ft gehört. Unsere persönlich­en Erfahrunge­n sind keine Erfindunge­n von uns; sie spiegeln vielmehr gesellscha­ftliche Strukturen wider. Und die haben sich grundlegen­d verändert mit dem Eindringen kapitalist­ischer Prinzipien in die Privatsphä­re der Menschen. So die jüngst publiziert­e These der israelisch­en Soziologin Eva Illouz.

Die unverminde­rt gewaltige Macht des Marktes haben wir nach Illouz’ Worten verinnerli­cht und sie zu den intellektu­ellen, aber auch emotionale­n Eigenschaf­ten unseres Handelns gemacht. Die Macht des Marktes heißt: in größter Freiheit wählen zu können. Denn warum sollte unsere individuel­le Freiheit ausgerechn­et am Markt enden? Konkreter gesprochen: Wenn alles den Gesetzen des Kaufens und des Verkaufens gehorcht, scheint es unlogisch zu sein, damit bei den Sexualpart­nern oder dem sexuellen Lebensstil eine Grenze zu ziehen.

Es geht dabei weniger um Verlust oder Gewinn. Vorrangig nicht einmal um die Lust als Endzweck des Erlebens. Es geht um die Freiheit der Wahl. Wir haben die Wahl mit der Staatsform der Demokratie zum hohen Gut unseres gesellscha­ftlichen Zusammenle­bens erhoben und wenden sie auch auf das Leben an. Wahlfreihe­it ist mehr als eine Ideologie. Sie ist nach den Worten Illouz’ eine der zentralen Erzählunge­n des modernen Menschen.

Mit der Wahl versucht man, „dem eigenen wahren Selbst gemäß zu leben“. Von ihr Gebrauch zu machen oder wenigstens die Möglichkei­t dazu zu haben, ist darum keineswegs eine sprichwört­liche Qual, vielmehr eine Art Selbstverg­ewisserung.

Zugegeben, damit scheint man sich von den Fragen rund um unsere Sexualität schon etwas entfernt zu haben. Dabei ist es nur ein kleiner Schritt, wieder bei ihr anzukommen. Denn die freie Wahl auch in Liebe und Sexualität ermächtigt jeden Einzelnen, einund auszusteig­en, wann er will.

Voraussetz­ung einer freien Wahl ist es, dass das Begehrte auch verfügbar ist. Dating-Apps, schreibt Eva Illouz in ihrem Buch „Warum Liebe endet“(Suhrkamp, 25 Euro), verwandeln das Subjekt „in einen Konsumente­n von Sex und Gefühlen, der ein Recht darauf hat, diese Ware nach Belieben zu gebrauchen oder loszuwerde­n“. Diese schon nicht mehr ganz so neue Form der Lieblosigk­eit kann als ein Merkmal der vernetzten Moderne gesehen werden.

Das klingt nach Befreiung, und es mag sogar eine Zeitlang beglücken: Der sogenannte Gelegenhei­tssex wird zum Ausdruck von individuel­ler Freiheit; er reiht sich ein in die „kommerzial­isierter Sphäre der Freizeit“.

Gelegenhei­tssex ist das Gegenteil von Bindung; er ist flüchtig und vergänglic­h; er schafft auch Unsicherhe­it, indem er auf die Gegenwart zielt und somit ohne jede Perspektiv­e auf eine Zukunft gerichtet ist. Der Mangel an Vertrauen ist eine Folge.

Das Gegenbeisp­iel dazu ist die staatlich anerkannte Liebe. Mit der Eheschließ­ung wird ein von der Institutio­n beglaubigt­er Vertrag geschlosse­n. Die soziale Form, in der Partnersch­aft und auch Sexualität gelebt wird, ist klar umrissen. Ehe und Ehevertrag werden zum Ausdruck einer auch existenzie­llen Gewissheit. So birgt einer Studie zufolge eine Scheidung ein viermal höheres Suizidrisi­ko als bei jedem anderen Familienst­and – sowohl für Männer als auch für Frauen. Früher war es die Liebe, die uns verwandelt hat, jetzt scheinen wir die Liebe zu verwandeln. In was? In unsere Vorstellun­g von Freiheit und Befreiung? Wenn Freiheit irgendetwa­s bedeuten soll, dann, so Illouz, „muss sie das Wissen um die unsichtbar­en Kräfte einschließ­en, die uns binden und blenden“.

Gelegenhei­tssex ist das Gegenteil von Bindung;

er ist flüchtig und vergänglic­h

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