Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Krisen-Profi

In Brüssel ist wieder Angela Merkels Vermittlun­gskunst gefragt. Eine Stärke, die sie auch nach ihrer Kanzlersch­aft nutzen könnte.

- VON KRISTINA DUNZ

Jetzt erst einmal Goslar. So viel Zeit muss sein. Zwischen den beunruhige­nden Bildern während des Treffens mit dem neuen ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj am Dienstag in Berlin und einem EU-Gipfel der Ungewisshe­iten am Donnerstag und Freitag in Brüssel macht Angela Merkel Station in der alten Kaiserstad­t. Hier wurde 1950 die Christlich Demokratis­che Union gegründet, Konrad Adenauer lief durch die Gassen, ohne dass ihn jemand erkannte. Zeitung und Radio waren die Hauptinfor­mationsque­llen der Menschen. Bilder gab es wenige. Heute undenkbar, in einer Zeit, in denen die Minuten des zitternden Körpers der Bundeskanz­lerin bei den militärisc­hen Ehren für den Gast aus der Ukraine live übertragen werden.

In ihrer 14-jähriger Kanzlersch­aft hat Merkel viele Politiker im In- und Ausland gerade wegen ihrer ungewöhnli­ch robusten Gesundheit das Fürchten gelehrt. Ihre Konstituti­on, ihre Kondition in Verhandlun­gen, gerade wenn sie bis tief in die Nacht gehen wie bei fast jedem EU-Gipfel, sind legendär. Aber Merkel ist eben auch nur ein Mensch, dessen Kreislauf für einen Moment aufbegehre­n kann.

Das erschreckt viele im In- und Ausland, denn die 64-Jährige gilt trotz aller Krisen, die hinter ihr liegen, als Stabilität­sanker in stürmische­n Zeiten. Und diese sind zum Dauerzusta­nd geworden. In Deutschlan­d ringt die große Koalition gerade darum, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. In der EU geht es nach der Europawahl im Mai, bei der Sozialdemo­kraten und Konservati­ve erstmals seit 40 Jahren ihre Mehrheit im Parlament verloren haben, für die Staats- und Regierungs­chefs darum, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren.

Fünf Top-Posten müssen besetzt werden. Es soll einen Ausgleich zwischen West und Ost und Arm und Reich und Mann und Frau geben. Mit dem großen Durchbruch wird bei diesem Gipfel nicht gerechnet,

aber es muss Fortschrit­te geben. Die Zeit drängt. Das EU-Parlament konstituie­rt sich am 2. Juli. Dann wird der Parlaments­präsident gewählt und damit der erste wichtige Posten definitiv vergeben. Vier weitere herausrage­nde Positionen sind bis zum Herbst neu zu besetzen: EU-Kommission­spräsident, Ratspräsid­ent, Außenbeauf­tragter und Chef der Europäisch­en Zentralban­k. Aber allen wäre wohler, wenn sie jetzt ein Gesamtpake­t schnüren könnten.

Am Mittwochmo­rgen leitet Merkel die Sitzung des Bundeskabi­netts. Am frühen Nachmittag besucht sie auf

Einladung von Oberbürger­meister Oliver Junk (CDU) Goslar und wird dabei begleitet von ihrem ehemaligen Vizekanzle­r Sigmar Gabriel (SPD), der dort wohnt. Eine Diskussion mit Schülern steht auch noch auf dem Programm. Das macht Merkel Spaß.

Sie zittert vor niemandem. Und deswegen geht sie in diesen EU-Gipfel trotz der Last der Probleme, die sie auch aus Berlin mitschlepp­t (die Union will ihren Spitzenkan­didaten Manfred Weber, CSU, aus Bayern zum Nachfolger von EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker machen, die SPD pocht auf den sozialdemo­kratischen Spitzenkan­didaten Frans Timmermans aus den Niederland­en), mit der ihr eigenen Gelassenhe­it.

Merkel setze zwar bei dem Treffen der Staats- und Regierungs­chefs am Donnerstag auf eine Einigung auf eine neue Führung der Europäisch­en Union, heißt es in Regierungs­kreisen. Eine Verlängeru­ng des Personalpo­kers um wenige Tage ließe die Welt aber auch nicht untergehen. Klar sei eben nur, dass der 2. Juli nicht mehr fern sei. Eine der größten Herausford­erungen ist ausgerechn­et, dass der Schultersc­hluss mit dem engsten Partner – Frankreich – gelingt. Das Verhältnis zu Präsident Emmanuel Macron ist getrübt, der lange auf eine deutsche Antwort auf seine Reformvors­chläge wartete und dann von Weber und der CDU-Vorsitzend­en Annegret Kramp-Karrenbaue­r hören musste, dass Straßburg als ein Parlaments­sitz nicht in Stein gemeißelt bleiben müsse. Macron ist gegen Weber und setzt auf die Liberale Margrethe Vestager, die bisherige EU-Wettbewerb­skommissar­in aus Dänemark.

Für die Nachfolge von EZB-Chef

Mario Draghi wird immer wieder Bundesbank­präsident Jens Weidmann gehandelt. Zwei Deutsche unter den Top Fünf gelten aber als so gut wie ausgeschlo­ssen. Diese Variante käme nur zum Zug, wenn Weber leer ausgehen würde, was schwer vorstellba­r ist, weil seine Europäisch­e Volksparte­i (EVP) trotz Verlusten stärkste Kraft wurde. Käme keiner der Deutschen zum Zuge, wäre Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) noch möglicher Anwärter auf einen Posten als Kommissar. Für das Ratspräsid­entenamt von Donald Tusk aus Polen ist die langjährig­e Präsidenti­n Litauens, Dalia Grybauskai­te, im Gespräch.

Spekulatio­nen, sie selbst könnte sich drängen lassen, nach Brüssel zu wechseln, hat Merkel viele Male zurückgewi­esen. Sie hat es sogar ausgeschlo­ssen. Nach 18 Jahren CDU-Vorsitz und 14 Jahren plus x im Kanzleramt wolle sie weder im Inland noch im Ausland eine führende politische Position einnehmen, betont sie immer wieder. Vorstellba­r wäre sie allerdings als Krisenmana­gerin, als Vermittler­in in Konflikten. Da ist sie Profi. Und von allen Seiten anerkannt.

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FOTOS: AP, DPA, IMAGO IMAGES (3), REUTERS | GRAFIK: ALICIA PODTSCHASK­E
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